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Jerofejew
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memoriam Ostap Bender
1.Besser Wodka
trinken, als Blut saugen.
Das ist die
Kernaussage von Wenedikt Jerofejew, einem russischen
Dichter, von dem die Welt erfuhr, als vor einem Viertel
Jahrhundert eine russische Zeitung seine "Die Reise nach
Petuschki" in Fortsetzungen brachte. Der Redakteur wollte
angeblich ein abschreckendes Beispiel des Alkoholismus den
Lesern unter die Nase reiben, insgeheim aber hatte er wohl vor,
ein Meisterwerk durch die unbarmherzige Zensur bringen, das
über die Befindlichkeit der Russen in der Spätzeit der
Sowjetmacht mehr aussagt, als Hunderte dicke Bände der serviler
Schreiberlinge, die diese
verherrlichte.
In Jerofeiews
Notizbuch steht die Frage: Was wäre es denn, wenn Lenin im
April 1917, als er mit dem Geld des deutschen Generalstabes nach
Russland kam, um die Revolution anzufachen, und seine
anstachelnde Rede von einem Panzerauto in Petersburg hielt,
besoffen, auf das besagte Auto nicht klettern könnte? Wäre es
für die Russen nicht besser? Keiner kann die Frage überzeugend
beantworten, eins aber steht fest. Die von Lenin
gepredigte Lehre lockt in Russland kaum jemanden hinter dem
Ofen. Nicht sie erwies sich als unsterblich (entgegen der
Hoffnung seiner Getreuen), sondern jene russische
Mentalität, der Jerofejew zum Ausdruck verhalf. Und die in der
Erkenntnis gipfelt: Besser Wodka trinken, als Blut
saugen.
Deswegen
bringen wir hier einen Auszug aus der "Reise nach Petuschki".
Übersetzt von einem der weltbesten seines Faches, Thomas
Reschke (Berlin), der es uns erlaubte, seinen bisher nicht
veröffentlichten Text zu bringen.
DIE
REISE NACH PETUSCHKI. DER MONOLOG EINES RUSSISCHEN SÄUFERS.
GESCHRIEBEN VOR 35 JAHREN.
...Überall
heißt es: der Kreml, der Kreml. Das habe ich von allen gehört,
aber gesehen habe ich den Kreml nie. Wie oft schon (tausendmal),
wenn ich betrunken oder verkatert war, bin ich durch Moskau
gegangen, von Nord nach Süd, von West nach Ost, von einem Ende
zum andern, doch nie habe ich den Kreml gesehen.
Auch
gestern habe ich ihn nicht gesehen, dabei bin ich den ganzen
Abend in dieser Gegend herumgelaufen, und so furchtbar betrunken
war ich gar nicht, denn nachdem ich am Bahnhof ausgestiegen war,
trank ich für den Anfang ein Glas Zubrowka, weil ich aus
Erfahrung weiß, dass der Menschheit als morgendlicher
Katerschluck bisher nichts Besseres eingefallen ist.
Ja.
Ein Glas Zubrowka. Dann - anderswo - ein weiteres Glas, aber
nicht Zubrowka, sondern Korianderschnaps. Ein Bekannter von mir
sagt, der wirkt auf den Menschen antihuman, das heißt, er
kräftigt alle Glieder und schwächt die Seele. Bei mir war es
aus irgendwelchen Gründen genau umgekehrt, das heißt, meine
Seele kräftigte sich in höchstem Maße, und die Glieder
erschlafften, aber ich will zugeben, daß auch dies antihuman
ist. Darum warf ich gleich noch zwei Gläser Shiguljowskoje-Bier
nach und ein Fläschchen Kölnisch Wasser.
Ihr
werdet jetzt natürlich fragen: Und weiter, Wenitschka, was hast
du dann getrunken? Das weiß ich selber nicht genau. Ich
erinnere mich ganz deutlich, daß ich irgendwo noch zwei
Jägerschnäpse trank. Aber ich kann den Sadowoje-Ring
unmöglich überquert haben, ohne vorher noch etwas getrunken zu
haben. Ausgeschlossen. Also habe ich noch etwas getrunken.
Danach
bin ich ins Zentrum gegangen, denn das ist immer so bei mir:
Wenn ich den Kreml suche, lande ich unweigerlich am Kursker
Bahnhof. Da musste ich ja eigentlich auch hin, nicht ins
Zentrum, trotzdem ging ich ins Zentrum, um wenigstens einmal den
Kreml anzuschauen. Ich krieg den Kreml ja doch nicht zu sehen,
habe ich mir gedacht, und lande gleich beim Kursker Bahnhof.
(Anm.
vom Matrjoschkin: Zu der Zeit hiess es noch, die ganze
fortschrittliche Menschheit träumt einzig und allein davon,
wenigstens einmal im Leben den Kreml angucken zu dürfen.
Wenitschka hatte aber mit der ganzen fortschrittlichen
Menschheit wenig im Sinn. Mit der unfortschrittlichen übrigens
auch. Darum brachte der junge Moskauer es fertig, durch die
sowjetische Metropole von einem Kiosk zum anderen zu wandern,
ohne den Kreml wenigstens einmal gesehen zu haben. Der Säufer,
der verdammte. Und als er voll wie eine Haubitze war, verkroch
er sich in einen fremden Hausflur und übernachtete dort. Lassen
wir ihn weiterreden).
Ich
ging hinaus an die Luft, als es schon tagte. Jeder, der mal
besinnungslos in einen Hausflur geriet und ihn im Morgengrauen
wieder verließ, weiß, welche Last im Herzen ich diese vierzig
Stufen hinab- und an die Luft hinaustrug.
Wird
schon, wird schon, sagte ich zu mir selbst, wird schon. Da, die
Apotheke, siehst du die? Und da, der Schwule in der braunen
Jacke schabt den Gehsteig. Den siehst du auch. Also beruhige
dich. Alles läuft, wie es soll. Wenn du nach links willst,
Wenitschka, dann geh nach links, ich zwinge dich zu nichts. Wenn
du nach rechts willst, dann geh nach rechts.
Ich
ging nach rechts, ein wenig schwankend vor Kälte und vor
Kummer, ja, vor Kälte und vor Kummer. Oh, diese morgendliche
Last im Herzen! Oh, dieses Nie-wieder-gut-machen-können! Was
ist sie vor allem, diese Last, die noch niemand beim Namen
genannt hat: Lähmung oder Übelkeit? Nervenzerrütung oder
Todessehnsucht irgendwo unweit des Herzens? Und wenn alles
gleich verteilt ist, was überwiegt: Starrkrampf oder Fieber?
Wird
schon, wird schon, sagte ich zu mir selbst. Schütze dich vor
dem Wind und geh langsam. Und atme selten, selten. Atme so, dass
die Füsse nicht über die Knie stolpern. Und geh irgendwohin.
Ganz egal, wohin. Wenn du nach links gehst, landest du am
Kursker Bahnhof, wenn du nach rechts gehst, landest du auch
dort. Also geh nach rechts, um mit Sicherheit dort zu landen.
Oh, diese Vergeblichkeit!
Oh,
diese Vergänglichkeit! Oh, diese kraftloseste und
schmählichste Zeit im Leben meines Volkes - die Zeit zwischen
dem Morgengrauen und der Öffnung der Läden!
(Anm.
v.M-n: Um die Zeit wollte die Sowjetführung der allgemeinen
Trunkenheit im Lande dadurch Einhalt gebieten, dass die
Spirituosenläden erst um elf Uhr öffnen durften. Das war eine
weitere Qual für die verkaterten Erbauer des Kommunismus. Wie
wir weiter lesen, liessen die Englein des lieben Gottes
Wenitschka nicht im Stich. ..)
Sie
sangen hoch droben so leise, so zärtlich-zärtlich...Oh! Ich
erkenne sie! Wieder sie! Die Engel des Herrn! Ihr seid es schon
wieder.
"Natürlich
sind wir's" - wieder so zärtlich!
"Wisst
ihr was, ihr Engel?" fragte ich leise, leise.
"Was
denn?" antworteten die Engel.
"Mir
ist so schlecht..."
Darauf
schwiegen die Engel. Dann sangen sie wieder:
"Weißt
du was? Geh ins Bahnhofsrestaurant. Vielleicht gibt's da was.
Gestern abend hatten sie Portwein. Es kann doch nicht sein, dass
an einem Abend der ganze Portwein ausgetrunken wurde!"
"Ja,
ja, ja. Da geh ich hin. Gleich geh ich hin und frag. Schönen
Dank, ihr Engel."
Da
sangen sie wieder leise, leise:
"Wohl
bekomm's, Wenitschka."
Ich
ging über den Platz. Zwei- oder dreimal blieb ich stehen und
stand starr auf dem Fleck, um den Brechreiz in mir zu
unterdrücken. Der Mensch hat schließlich nicht nur die
physische Seite, er hat auch eine geistige Seite, und er hat
darüber hinaus eine mystische, eine übergeistige Seite. Also,
ich wartete darauf, dass mir jeden Moment mitten auf dem Platz
von allen drei Seiten übel wurde. Wieder blieb ich stehen, und
wieder stand ich starr.
..."Keine
alkoholischen Getränke", sagte der Rausschmeißer des
Bahnhofrestaurants. Er musterte mich von oben bis unten wie ein
krepiertes Vögelchen oder ein schmutziges Blümchen.
"Keine alkoholischen Getränke!"
Obwohl
es mich vor Verzweiflung krumm zog, brachte ich heraus, daß ich
nicht deshalb gekommen wäre. Konnte ich nicht viele andere
Gründe haben? Vielleicht wollte mein Schnellzug nicht fahren,
und ich war hierher gekommen, um ein Stroganoff zu essen und den
berühmten Sänger Iwan Koslowski im Radio zu lauschen,
vielleicht auch etwas aus dem "Barbier" zu hören.
Keine
alkoholischen Getränke! Himmelskönigin! Wenn ich den Engeln
Glauben schenkte, konnte der Portwein nicht alle geworden sein.
Bislang gab's hier nur Musik, noch dazu mit irgendwelchen
hündischen Modulationen. Da sang ja wirklich Iwan Koslowski,
den erkannte ich sofort, eine scheußlichere Stimme gibt's ja
nicht. Alle Sänger haben gleichermaßen scheußliche Stimmen,
aber jede ist auf ihre Art scheußlich. Darum kann ich sie nach
dem Gehör leicht unterscheiden. Aber ja, Iwan Koslowski.
"Oh, lass dich anschauen hier im Licht der Steeerne..."
Aber sicher, Iwan Koslowski. "Ooh, wie hast du mich
verzaubert... Stoß mich nicht zurück..."
"Wollen
Sie was bestellen?"
"Was
gibt's denn bei Ihnen, nur Musik?"
"Nur
Musik? Stroganoff haben wir, auch Gebäck. Euter."
Mir
wurde schon wieder Übel.
"Und
Portwein?"
"Portwein
haben wir nicht."
"Interessant.
Euter ist da, aber Portwein nicht!"
"Sehr
interessant. Ja, Portwein haben wir nicht. Euter haben
wir."
(Anm.
v. M-n: In den Jahren des entwickelten Sozialismus in der SU ein
gängiges Angebot in den Gaststätten: gebratenes Euter! Alle
fragten sich, wo ist das dazu gehörige Kuhfleisch geblieben?
Ging es nach Kuba, dem besten Freund des Sowjetvolkes, dem
bärtigen Castro? Aber das Geheimnis blieb. Und das Euter auf
der Speisekarte auch. Und von BSE hat niemand was gehört!)
Ich
wurde in Ruhe gelassen. Damit es mich nicht mehr so würgte,
betrachtete ich den Lüster über meinem Kopf.
Ein
Schöner Lüster. Aber sehr schwer. Wenn er jetzt abriss und
jemandem auf den Kopf fiel, das Würde sehr weh tun. Doch nein,
wahrscheinlich würde es gar nicht weh tun: Während er abreißt
und runtersaust, sitzt du ahnungslos da und trinkst zum Beispiel
Portwein. Und wenn er dich erreicht, bist du schon nicht mehr am
Leben. Ein quälender Gedanke: Du sitzt da, und von oben kommt
der Lüster. Ein sehr quälender Gedanke...
"Na,
ist Ihnen was eingefallen? Wollen Sie was bestellen?"
"Portwein
bitte, achthundert Gramm."
"Du
bist ja schon voll! Ich hab dir doch deutlich gesagt: Wir haben
keinen Portwein!".
"Na...
ich kann warten... bis er kommt..."
"Warte
nur... Da kannst du lange warten! Gleich kriegst du deinen
Portwein!"
Wieder
wurde ich in Ruhe gelassen. Ich blickte der Frau angewidert
hinterher. Besonders auf ihre weißen Strümpfe ohne Naht; eine
Naht würde mich vielleicht versöhnt, würde meine Seele und
mein Gewissen entlastet haben...
Warum
sind die so grob? Hä? Grob, betont grob, und das in einem
Moment, in dem man nicht grob sein darf, weil bei dir wegen des
Katers alle Nerven frei liegen und du still und kleinmütig
bist. Warum?
Oh,
wenn die ganze Welt, wenn jeder Mensch auf der Welt in dem
Zustand wäre, wie ich jetzt, still und furchtsam, und wenn sie
alle wie ich an nichts glaubten, weder an sich selbst noch an
die Dauerhaftigkeit ihres Platzes unter dem Himmel - wie schön
wäre das! Keine Enthusiasten, keine Heldentaten, keine
Ergriffenheit, nur allgemeiner Kleinmut. Dann könnte ich eine
Ewigkeit auf der Erde leben, wenn sie mir vorher einen Winkel
zeigten, wo kein Platz für Heldentaten ist. "Allgemeiner
Kleinmut" - das wäre ja die Erlösung von allen Übeln,
das wäre das Allheilmittel, das wäre ein Prädikat höchster
Vollkommenheit! Und was das tätige Wesen der Natur betrifft...
"Wer
will hier Portwein?"
Ich
sah zwei Frauen und einen Mann, alle drei in Weiß. Ich blickte
zu ihnen auf - oh, wie viel Unflat, wie viel Wirrnis musste
jetzt in meinen Augen sein, das erkannte ich an ihren Augen, die
Wirrnis und Unflat spiegelten. Ich ließ den Kopf hängen und
verlor meine Seele.
"Aber
ich... ich bitte doch um gar nichts weiter. Na schön, kein
Portwein da, ich kann ja warten... nur so..."
"Was
heißt hier 'nur so'! Worauf wollen Sie warten?"
"Auf
fast gar nichts... Meine Henker warteten, was ich noch sagen
würde.
"Ich
komm ja... aus Sibirien, aber ich hab keine Eltern mehr... Bloß
damit mir nicht schlecht wird... möcht ich Portwein."
Das
hätte ich nicht sagen dürfen. Vom Portwein, nein! Der brachte
sie zur Explosion. Alle drei packten mich bei den Armen und
führten mich - o siedende Schmach! - durch den ganzen Saal,
dann stießen sie mich hinaus in die Luft.
Wieder
an der Luft. Oh, Nichtigkeit! Oh, tierisches Zähneblecken der
rauen Wirklichkeit!
Was
danach war - vom Restaurant zum Laden und vom Laden zum Zug -
lässt sich nicht mit menschlichen Worten ausdrücken. Ich
versuche es gar nicht erst. Falls die Engel es versuchen sollten
- sie würden einfach heulen und vor lauter Tränen kein Wort
hervorbringen.
Machen
wir's lieber so - wir würdigen diese zwei tödlichen Stunden
durch eine Schweigeminute. Gedenke dieser zwei Stunden,
Wenitschka. Gedenke ihrer in den feierlichsten, funkelndsten
Tagen deines Lebens, in Augenblicken der Seligkeit und des
Entzücken - vergiss sie nicht. Das darf sich nie wiederholen.
Ich wende mich an alle Angehörigen und Nahestehenden, an alle
Menschen guten Willens, an alle, deren Herz für Poesie und
Mitleid offen steht:
"Lasst
ab von eurer Beschäftigung. Bleibt mit mir stehen, und
würdigen wir das Unsagbare durch eine Schweigeminute. Und wenn
ihr irgendeine elende Hupe zur Hand habt, drückt darauf."
Ja.
Ich bleibe auch stehen. Genau eine Minute, mit trübem Blick zur
Bahnhofsuhr, stehe ich wie ein Pfahl mitten auf dem Platz vor
dem Kursker Bahnhof. Meine Haare wehen im Wind, dann stehen sie
zu Berge, dann wehen sie wieder. Taxis umfließen mich von allen
vier Seiten. Menschen auch, und sie gucken irre; bestimmt denken
sie, vielleicht sollte man den da als Belehrung für die Völker
des Altertums in Stein Meißeln? Oder lieber nicht?
(Anm.
von M-n: Das Pech von Wenitschka bestand darin, dass er sich wie
viele Säufer in der Zeit angewöhnt hatte, zu saufen ohne was
zu essen. Weil das knappe Geld für beides nicht reichte).
...Die
erste Dosis kann ich nicht zu mir nehmen, ohne was zu essen,
weil ich sonst womöglich kotze. Die zweite und dritte Dosis,
die kann ich schon trocken zu mir nehmen, denn dann kann mir
zwar schlecht werden und wird auch, aber kotzen muß ich nicht.
Bis zur neunten Dosis. Dann brauch ich ein belegtes Brot.
"Wozu?
Wird dir wieder schlecht?"
"Ach
wo, schlecht wird mir dann nicht, aber kotzen muß ich."
Ihr
schüttelt natürlich alle den Kopf. Ich seh sogar von hier, vom
nassen Bahnsteig, wie ihr alle, über die Erde verstreut, den
Kopf schüttelt und ironisch sagt:
"Das
ist ja so kompliziert, Wenitschka, so raffiniert!"
"Na
klar!"
"Welche
Präzision des Denkens! Und das ist alles? Alles, was du
brauchst, um glücklich zu sein? Weiter brauchst du
nichts?"
"Nichts,
das würd ich nicht sagen", sage ich und steige in den Zug
ein. "Hätt ich mehr Geld gehabt, ich hätt noch Bier
genommen und ein paar Fläschchen Portwein, aber so..."
Jetzt
stöhnt ihr schon.
"Oh,
Wenitschka! Ooh, wie primitiv!"
"Na
und? Von mir aus primitiv", sag ich. "Und nun red ich
nicht mehr mit euch. Von mir aus primitiv! Aber eure Fragen
beantworte ich nicht mehr. Ich setz mich lieber hin schau zum
Fenster hinaus. So. Von mir aus primitiv!"
Aber
ihr setzt mir zu:
"Was
hast du? Beleidigt?"
"Aber
nein", antworte ich.
"Sei
nicht beleidigt, wir meinen es gut mit dir."
Natürlich
halten mich alle für einen schlechten Menschen. Morgens und
verkatert bin ich ja derselben Meinung. Aber man darf nie der
Meinung eines Menschen trauen, der noch keinen Katerschluck
genommen hat! Dafür stecken abends Abgründe in mir, natürlich
nur, wenn ich tagsüber was zu mir genommen hab, dann sind
abends unglaubliche Abgründe in mir!
Aber
bitte. Bin ich eben ein schlechter Mensch. Wenn es einem
Menschen morgens mies geht und er abends voller schöpferischer
Pläne, Träume und Bemühungen ist, dann ist er sehr schlecht,
dieser Mensch. Morgens scheußlich, abends gut, das ist ein
sicheres Merkmal eines schlechten Menschen. Und umgekehrt, wenn
er am Morgen munter ist und voller Hoffnungen und ihn am Abend
Erschöpfung befällt, dann ist er ein Dreck, ein Egoist und
reine Mittelmäßigkeit. Zuwider ist mir solch ein Mensch. Wie
ihr das seht, weiß ich nicht, aber mir ist er zuwider.
...
Also, was haben wir?
Ich
holte aus dem Koffer, was ich hatte, und befühlte alles, von
den belegten Broten bis zu dem Verschnitt für
einssiebenunddreißig. Und wie ich es befühlte, packte mich
plötzlich rasende Gier, und ich wurde ganz verzagt. Herrgott,
du siehst, was ich habe. Aber brauche ich das etwa? Ist es dies,
wonach meine Seele sich sehnt? Dies hier haben mir die Menschen
gegeben statt dem, wonach sie sich sehnt! Und wenn sie mir das
gegeben hätten, würde ich denn dies hier brauchen? Schau her,
Herrgott, da: Verschnitt für einssiebenunddreißig...
Und
der Herrgott, von blauen Blitzen umzuckt, antwortete mir:
"Und
wozu braucht die heilige Theresia ihre Wundmale? Die braucht sie
ja auch nicht. Aber sie möchte sie."
"Genau!"
antwortete ich begeistert. "Ich auch, ich auch, ich möchte
es, aber ich brauche es nicht!"
Na,
wenn du es möchtest, Wenitschka, dann trink, dachte ich leise,
aber ich zögerte noch. Würde mir der Herrgott noch etwas sagen
oder nicht?
Der
Herrgott schwieg.
Also
gut. Ich nahm ein Viertelliterfläschchen Wodka und ging auf die
Plattform. Mein Geist schmachtet nach den viereinhalb Stunden,
jetzt lasse ich ihn hinaus ins Freie. Ich habe ein Glas und ein
belegtes Brot, damit mir nicht Übel wird. Und ich habe eine
Seele, die noch ein wenig offensteht für die Eindrücke des
Daseins. Herrgott, teile mein Mahl!
Und
ich trank gierig.
Und
nachdem ich getrunken hatte, ihr seht ja, wie lange ich mit
verzerrtem Gesicht das Würgen zurückhielt, wie ich fluchte und
zotete. Fünf Minuten oder sieben, vielleicht eine ganze
Ewigkeit warf es mich in den vier Wänden umher, ich griff mir
nach der Gurgel und flehte meinen Gott an, mir nichts zu tun.
Und
bis Karatscharowo erhörte Gott mein Flehen nicht, der
getrunkene Glasinhalt klumpte mal zwischen Bauch und
Speiseröhre, mal stieg er hoch, dann sank er wieder. Das war
wie ein Vesuvausbruch, wie Herculaneum und Pompeji, wie der
Erste-Mai-Salut in der Hauptstadt meines Landes. Und ich litt
und flehte.
Erst
kurz vor Karatscharowo erhörte Gott mein Flehen. Alles legte
sich und wurde still. Und wenn sich einmal bei mir etwas legt
und still wird, dann unumkehrbar. Verlaßt euch darauf. Ich habe
Achtung vor der Natur, und es wäre nicht schön, der Natur ihre
Gaben zurückzugeben... Ja.
Ich
strich mir schlecht und recht die Haare glatt und kehrte in den
Wagen zurück. Das Publikum sah mich beinahe teilnahmslos an,
mit runden und gleichsam unbeschäftigten Augen.
Das
gefällt mir. Mir gefällt, daß das Volk meines Landes solche
leeren und runden Augen hat. Das flößt mir ein Gefühl
berechtigten Stolzes ein. Ich kann mir vorstellen, was sie dort
für Augen haben, wo alles verkauft und gekauft wird: tief
versteckte, tückische, räuberische, verschreckte Augen.
Geldentwertung, Arbeitslosigkeit, Verelendung... Sie gucken
unter gesenkter Stirn hervor, mit nie verstummender Qual und
Sorge - solche Augen hat die Welt des Geldes.
Mein
Volk dagegen - was hat es für Augen! Stets ein wenig
vorgewölbt, zeigen sie keinerlei Spannung. Völliges Fehlen
jedweden Sinns - aber dafür welche Macht! (Welche geistige
Macht!) Diese Augen können nichts verkaufen. Nichts verkaufen
und nichts kaufen. Was mit meinem Lande auch immer geschieht. In
Tagen des Zweifels, in Tagen quälender Gedanken, in Jahren
beliebiger Prüfungen und Unglücks - diese Augen zwinkern
nicht. Ihnen ist alles wie Gottes Morgentau.
Mir
gefällt mein Volk. Ich bin glücklich, unter den Blicken dieser
Augen geboren und zum Manne geworden zu sein. Schlecht ist nur
eins: Womöglich haben sie gesehen, was ich jetzt eben draußen
im Windfang angestellt habe? Wie ich von einer Ecke in die
andere getorkelt bin wie der große Tragöde Fjodor Schaljapin,
die Hand an der Gurgel, als ob es mich würgte?
Übrigens,
na wenn schon. Wenn's einer gesehen hat - na wenn schon.
Vielleicht hab ich dort was geprobt? Ja... wirklich. Vielleicht
habe ich das unsterbliche Drama "Othello, der Mohr von
Venedig" gespielt? Einsam gespielt und dabei sämtliche
Rollen?
(Anm.von
M-n: Und jetzt, wo es ihm bereits besser geht, erinnert sich
Wenitschka daran, wie er vor einer Woche von dem
Brigadiersposten in seinem Betrieb wegen der "Einführung
eines lasterhaften Systems individueller graphischer
Darstellungen" abgesetzt wurde).
Also.
Vor einer Woche haben sie mich von meinem Brigadiersposten
gefeuert, den die mir Fünf Wochen zuvor gegeben hatten. In vier
Wochen, das werdet ihr verstehen, lassen sich keine jähen
Veränderungen einführen, und ich habe auch gar keine jähen
Veränderungen eingeführt, doch wenn jemand glaubte, ich hätte
welche eingeführt, haben sie mich jedenfalls nicht wegen jäher
Veränderungen gefeuert.
Es
fing ganz einfach an. Vor meiner Zeit sah unser
Produktionsprozess so aus: Am Morgen setzten wir uns hin und
spielten Kartenspiel Sika um Geld (könnt ihr Sika spielen?).
So. Danach standen wir auf, wickelten das Kabel von der Trommel
und verlegten es unter die Erde. Und dann, klarer Fall: Wir
setzten uns hin, und jeder schlug die Zeit auf seine Weise tot,
schließlich hat jeder seine Träume und sein Temperament: Der
eine trank Wermut, ein anderer, schlichterer, trank Eau de
Cologne, und wer anspruchsvoller war, ging in den
internationalen Flughafen Scheremetjewo Kognak trinken. Danach
legten wir uns schlafen.
Am
nächsten Morgen war's so: Zunächst setzten wir uns hin und
tranken Wermut. Danach standen wir auf, zerrten das gestrige
Kabel wieder aus der Erde und schmissen es weg, weil es schon
ganz naß war. Und was dann? Dann setzten wir uns hin und
spielten Sika um Geld. Wir legten uns hin, ohne das Spiel
beendet zu haben.
Früh
am Morgen weckten wir uns gegenseitig: "Ljocha, steh auf,
Sika spielen!" Oder: "Stassik, steh auf, wir müssen
die gestrige Partie zu Ende spielen!" Wir standen auf und
spielten die Sika-Partie zu Ende. Danach - vor Tau und Tag, ohne
Kölnisch Wasser "Frische" oder Wermut getrunken zu
haben - schnappten wir uns die Trommel und wickelten das Kabel
ab, damit es bis morgen naß wurde und nichts mehr taugte. Dann
schlug wieder jeder seine Zeit tot, denn jeder Mensch hat seine
eigenen Ideale. Und dann wieder alles von vorne.
Nachdem
ich Brigadier geworden war, vereinfachte ich diesen Prozess bis
an die nur denkbare Grenze. Von da an machten wir es so: Am
ersten Tag wurde Sika gespielt, am zweiten Wermut getrunken, am
dritten wieder Sika gespielt und am vierten wieder Wermut
getrunken. Wer von uns mit Intellekt begabt war, der verschwand
im Flughafen Scheremetjewo, saß dort und trank Kognak. Die
Kabeltrommel rührten wir natürlich nicht mal mit dem Finger
an, denn wenn ich vorgeschlagen hätte, die Trommel anzurühren,
hätten sie herzlich gelacht wie die Gatter, mich dann mit
Fäusten ins Gesicht geschlagen und wären auseinandergegangen:
der eine Sika spielen um Geld, der andere Wermut trinken oder
Kölnisch Wasser. Eine Weile lief alles ausgezeichnet: Einmal im
Monat schickten wir denen sozialistische Verpflichtungen, und
sie schickten uns zweimal im Monat den Lohn. So schrieben wir
zum Beispiel: Anlässlich der bevorstehenden Hundertjahrfeier
verpflichten wir uns, mit den Arbeitsunfällen in der Produktion
Schluss zu machen. Oder: Aus Anlass der ruhmreichen
Hundertjahrfeier wollen wir erreichen, dass jeder sechste von
uns ein Fernstudium absolviert. Dabei konnte von
Arbeitsunfällen und Fernstudium keine Rede sein, wir kriegten
ja beim Sika-Spiel nie das Tageslicht zu sehen, und wir waren
Fünf Mann!
O
Freiheit und Gleichheit! O Brüderlichkeit und Leben auf fremde
Kosten! O Süßigkeit des Nichtverantwortlichseins! O seligste
Zeit im Leben meines Volkes - die Zeit zwischen der Öffnung und
der Schließung der Läden!
Nachdem
wir Scham und sonstige Sorgen von uns geworfen hatten, führten
wir ein ausschließlich geistiges Leben. Nach Maßgabe meiner
Kräfte erweiterte ich den Gesichtskreis meiner Männer, und es
gefiel ihnen sehr, wenn ich ihn erweiterte: besonders in allem,
was Israel und die Araber betraf. Da waren sie vollkommen
begeistert von Israel und den Arabern und besonders von den
Golanhöhen. Und Abba Eban und Moshe Dayan führten sie ständig
im Munde. Wenn einer morgens zum Beispiel von den Nutten kam und
gefragt wurde: "Na, wie war's? Hat die Nina aus der
Dreizehn Dayan Eban*?" Dann antwortete er
(Fußnote
des Übersetzers: *Unübersetzbares obszönes Wortspiel: Die
Namen der beiden israelischen Politiker klingen im Russischen
fast so wie die - russische - Frage: Hat sie dich
rübergelassen?)
selbstzufrieden
auflachend: "Was hätte sie sonst machen sollen? Natürlich
hat sie Dayan!"
Und
dann (hört zu), und dann gab ich ihnen das Poem "Der
Nachtigallengarten" von Alexander Block zu lesen. Mitten in
dem Poem, gibt es eine lyrische Person, die wegen Suff, Hurerei
und Bummelei von der Arbeit entlassen wird. Ich sagte ihnen:
"Das ist ein sehr modernes Buch", sagte ich, "ihr
werdet es mit großem Gewinn lesen." Nun, sie lasen es.
Aber gegen meine Erwartung wirkte es bedrückend auf sie, denn
in allen Läden war schlagartig Kölnisch Wasser ausgegangen.
Unbegreiflich warum, aber das Sika-Spiel war vergessen, der
Wermut war vergessen, der internationale Flughafen Scheremetjewo
war vergessen, und Kölnisch Wasser "Frische"
triumphierte, alle tranken nur "Frische".
O
Sorglosigkeit! O Vögel am Himmel, die ihr nicht zu den
Kornspeichern fliegt! O ihr Lilien des Feldes, Schöner gewandet
denn Salomo! Sie hatten alle "Frische" zwischen der
Station Dolgoprudnaja und dem internationalen Flughafen
Scheremetjewo ausgetrunken!
Und
da kam mir die Erleuchtung: Du bist doch ein Taugenichts,
Wenitschka, ein Dummkopf rundherum, erinnere dich, du hast doch
bei einem Weisen gelesen, daß sich der Herrgott lediglich um
die Prinzen sorgt und die Sorge um das Volk den Prinzen
überlässt. Wenn du Brigadier bist, dann bist ein "kleiner
Prinz". Wo bleibt deine Sorge um das Schicksal deiner
Völker? Hast du hineingesehen in die Seelen, in die
Seelenabgründe dieser Schmarotzer? Die Dialektik des Herzens
dieser vier Trottel - du kennst sie? Wenn sie dir bekannt wäre,
würdest du besser begreifen, was der
"Nachtigallengarten" mit der "Frische"
gemein hat und warum der "Nachtigallengarten" weder
mit dem Sika-Spiel noch mit Wermut zusammengeht, während Moshe
Dayan und Abba Eban hervorragend mit ihnen zusammengingen!
Ja,
und da führte ich meine berüchtigten "individuellen
graphischen Darstellungen" ein, für die sie mich
schließlich feuerten.
Soll
ich euch sagen, was für Darstellungen das waren? Nun, sehr
einfach: auf Velinpapier wurden mit schwarzer Tusche zwei Achsen
gezeichnet, die eine horizontal, die andere vertikal. Auf der
Horizontalachse wurden hintereinander sämtliche Arbeitstage des
laufenden Monats vermerkt und auf der Vertikalachse die Zahl der
getrunkenen Gramme, umgerechnet auf reinen Alkohol. Dabei wurde
natürlich nur das berücksichtigt, was in der Arbeitszeit und
davor getrunken wurde, denn was am Abend getrunken wird, ist bei
allen eine mehr oder weniger gleichbleibende Größe und bietet
für einen ernsthaften Forscher kein Interesse.
Also,
nach Ablauf des Monats bringt mir jeder Arbeiter seinen Bericht,
wie viel er an dem und dem Tag von dem und dem Getränk zu sich
genommen hat und wie viel am nächsten Tag. Dann trage ich auf
dem Velinpapier mit schwarzer Tusche sämtliche Angaben
säuberlich in das Diagramm ein.
Sie
müssen zugeben, es sind interessante Kurven, für einen, der
gründlich forscht (wie zum Beispiel ich), plaudern diese Kurven
alles aus, was sich nur über einen Menschen und ein
Menschenherz ausplaudern lässt: alle seine Eigenschaften, von
den sexuellen bis zu den beruflichen, alle seine Niederlagen,
die beruflichen wie die sexuellen. Des weiteren der Grad seiner
Ausgeglichenheit, seine Befähigung zum Verrat und sämtliche
Geheimnisse des Unterbewusstseins, sofern es dort überhaupt
Geheimnisse gibt.
Ich
betrachtete jetzt die Seele jedes meiner Trottel aufmerksam,
durchdringend, unverwandt. Aber ich betrachtete sie nicht mehr
sehr lange, denn eines Bösen Tages waren meine Diagramme vom
Schreibtisch verschwunden.
Als
ich den Verlust bemerkte, trank ich und griff mir an den Kopf.
Dort in der Verwaltung dasselbe Bild: Sie öffneten den
Umschlag, fassten sich an den Kopf, tranken und kamen noch am
selben Tag mit einem Moskwitsch zu unserm Abschnitt gefahren.
Was kriegten sie zu sehen, als sie in unser Büro eindrangen?
Sie kriegten nichts zu sehen außer Ljocha und Stassik. Ljocha
schlief zusammengerollt auf dem Fußboden, und Stassik kotzte.
Binnen einer Viertelstunde war alles entschieden. Mein Stern,
vor vier Wochen aufgeflammt, ging unter. Die Kreuzigung war
vollzogen - genau dreißig Tage nach meiner Erhöhung. Nur ein
Monat lag zwischen meinem Toulon und meinem St. Helena. Kurz und
gut, ich wurde gefeuert...
Und
hier erkläre ich feierlich: Bis ans Ende meiner Tage werde ich
nichts unternehmen, um meinen traurigen Erhöhungsversuch zu
wiederholen. Ich bleibe unten und spucke von unten auf eure
ganze gesellschaftliche Leiter. Ja. Auf jede Stufe der Leiter
einmal gespuckt. Um auf ihr hinaufzusteigen, muss man ein
Schwuler sein, geschmiedet aus Edelstahl von Kopf bis Fuß. So
einer bin ich nicht.
Wie
dem auch sei, ich war gefeuert. Ich, der nachdenkliche Prinz und
Analytiker... Dieser ganze Alltagsquatsch hat mich dermaßen
fertiggemacht, dass ich seit dem Tag dauernd besoffen bin. Ich
will ja nicht sagen, dass ich davor je besonders nüchtern
gewesen wäre, aber damals wusste ich jedenfalls noch, was ich
trinke und in welcher Reihenfolge, und das kann ich mir jetzt
nicht mehr merken. Das verläuft bei mir in Zeitzonen wie alles
im Leben: Mal trinke ich eine Woche gar nicht, dann trinke ich
vierzig Tage lang, dann trinke ich wieder vier Tage gar nicht
und dann wieder sechs Monate ununterbrochen. So auch
jetzt..."
"Wir
verstehen. Wir verstehen alles. Du bist beleidigt worden, und
dein edles Herz..." –sangen die Engel im Himmel.
Ja,
ja, an jenem Tag hat mein edles Herz eine geschlagene halbe
Stunde mit dem Verstand gekämpft. Wie in den Tragödien von
Pierre Corneille, dem preisgekrönten Poeten: Die Pflicht
kämpft mit der Herzensmeinung. Nur war es bei mir umgekehrt:
Die Herzensmeinung kämpfte mit dem Verstand und der Pflicht.
Mein Herz sagte mir: "Sie haben dich beleidigt, dich mit
Scheiße verglichen. Geh, Wenitschka, und betrinke dich. Steh
auf und geh dich betrinken wie ein Hund." Das sagte mir
mein edles Herz. Und mein Verstand? Der nörgelte und beharrte:
"Du wirst nicht aufstehen, Jerofejew, du wirst nirgendwo
hingehen und keinen Tropfen trinken." Darauf das Herz:
"Na gut, Wenitschka, gut. Du musst ja nicht viel trinken,
du musst dich ja nicht besaufen wie ein Hund, trink vierhundert
Gramm und sei dann dicht." - "Keinen Schnaps!"
sagte der Verstand strikt. "Wenn's schon ohne das nicht
geht, dann trink drei Gläser Bier, und an Schnaps denkst du
nicht mal, Jerofejew." Das Herz aber wimmerte: "Na,
wenigstens zweihundert Gramm. Na... wenigstens
hundertfünfzig." Darauf der Verstand: "Na gut,
Wenitschka", sagte er, "gut, trink hundertfünfzig
Gramm, aber geh nirgendwo hin, bleib zu Hause."
Was
denkt ihr euch eigentlich? Ich trinke hundertfünfzig Gramm und
bleib zu Hause? Ha-ha. Ich habe seit diesem Tag täglich
tausendfünfhundert Gramm getrunken, um zu Hause zu bleiben,
aber es zog mich trotzdem unter die Leute. Und zu Hause blieb
ich nicht...
Zwei
Lesermeinungen zu Jerofejew:
1.Das
Buch von J. hatte ich mir gleich gekauft, als Sie es erstmalig
empfahlen. Die gute Reschke-Übersetzung habe ich nicht
auffinden können,
sondern nur die Suhrkamp-Ausgabe mit einer anderen Übersetzung.
Hinter der Maske des Trinkers haben schon andere große
Schriftsteller
ihre ätzenden Wahrheiten über die Leser gegossen, vor allem in
dunkleren
Zeiten. Was soll ich sagen: Klasse!
Solche Lesungen fände ich für Berlin gut. Ich würde sofort
hingehen.
Anna
Blume.
2.
Was sollen die Bekenntnisse des schlimmen Säufers? Ist der
Wodkaabsatz in Russland nicht gross genug? Oder wollen Sie den
Wodka-Exporteuren in Russland auf die Sprünge helfen?
Kein
Wodka-Trinker.
21.2.01
2.
BALL. ERZÄHLUNGEN
Matrjoschka
bietet hier Erzählungen eines russischen Dichters an. Er heisst
Georgi Ball, lebt in Moskau. Mehrere Jahrzehnte lang wurden
seine Werke von der sowjetischen Zensur unterdrückt. Jetzt
publiziert er mehr als früher und wird von der Literaturkritik
mehr oder weniger wohlwollend behandelt. G. Ball erlaubte uns,
die Erzählungen zu bringen. Übersetzt wurden sie von R. Schick
(Berlin).
DER
LETZTE KAMPF
Die
ausgemusterte Stimme des Oberst a.D. ließ sich auf dem
Fliesenboden des Badezimmers nieder.
"
Na, alter Junge, was ist?"
Er
betrachtete sich im Spiegel. Ihm blickte ein Panzer mit rechts
aufgerissener Panzerkette und herunterhängendem Kanonenrohr
entgegen.
"Na
was ist, Alter?" fragte der Oberst noch einmal.
"Wollen wir heute was essen? Die Wurst hängt mir ..."
der Oberst griff sich an den Hals. "Kartoffeln haben wir,
könnte was Eingelegtes kaufen, rote Rübchen. Ein
Borschtsüppchen brauen. Ach, zu viel Umstände."
Die
grünen Panzeraugen schauten den Oberst wehmütig an.
"No
Problem, Sir!" Der Oberst gähnte breit. "Muß nur den
Fernseher reparieren, eigenhändig, nebenbei gesagt."
Mit
dem Bruchstück eines Blicks streifte der Oberst das Zifferblatt
und lippenlos trat in sein Bewußtsein: 23.27 Uhr. Die alte Uhr
ließ ihn nie im Stich. Immer konnte er sich auf sie verlassen
wie auf einen Freund – durch Dick und Dünn, die Uhr mit
eingebautem Kompaß.
Seine
Hand funktionierte automatisch, die Finger ertasteten die Brust
des Rasiernapfes, drückten Creme hinein. Er drehte den
Wasserhahn über der Badewanne auf und schaltete ab.
"Der
Kronprinz liebte es, sich abends zu rasieren," murmelte er.
"Der Kronprinz liebte," er machte eine lange Pause,
"den Rest seiner Tage im Elfenbeinturm zu leben."
Schaum
verhüllte das Gesicht des Oberst.
"Aber
doppelgesichtiger Janus - das sind wir, ich und der Kronprinz,
nicht, niemals. Die sollen sich mit diesem Janus - ganz genau,
Sir."
Leicht
und sanft räumte die Rasierklinge den Seifenschaum ab. Wie
neugeboren stellten sich die Spitzen des schwarzen Schnauzbarts
auf, in dem kein einziges graues Haar zu sehen war. Nur das
Seitenhaar, hm das Seitenhaar, aber weil der Kopf durchaus noch
knastig ist und die Augen noch feurig sind, nur die Säckchen
unter den Augen angeschwollen, aber sonst - der Oberst schürzte
die Lippen, seine Nase spürte die leichte Berührung der
Bartspitzen - für die Weiber immer noch die Überraschung
"X" hoch "n".
"Also
was ist, Artjom," wandte er sich an den Panzer,
"nehmen wir heute time-out bei den Weibern? Oder wie?"
Der
Oberst wohnte in einer Zweizimmerwohnung im sechsten Stock,
einem Aufbau auf ein fünfstöckiges Haus aus der
Jahrhundertwende, mit himmelhohen Decken. Sogar im Bad und in
der Toilette große Fenster, die auf schmale Gassen
hinauszeigten. Gegenüber summte hinter einer Steinmauer
gleichförmig bis Mitternacht eine Schuhfabrik, der Gerbegestank
zog bis zu den Fenstern des Oberst herauf.
Im
großen Zimmer nahm ein orgelartiges Eichenbuffet die ganze Wand
ein. Der Bewohner vor ihm konnte es nicht rausschaffen, so
erhielt es der Oberst zusammen mit der Wohnung. Ein anderes
Geschenk, ein dunkelrotes Bett in Muschelform mit Baldachin
breitete sich frech im kleinen Zimmer aus. Dieses hatte der
frühere Mieter, ebenfalls ein Militär, mit dem der Oberst eine
Zeitlang Umgang pflegte, bei Kriegsende aus Österreich
mitgebracht. Doch der starb, noch bevor der Oberst nach
Afghanistan mußte. Das Bett verwaiste nicht, der Baldachin
wurde gerüttelt und geschüttelt von verschiedenen Personen
weiblichen Geschlechts. Jede hatte einen Namen, doch das
Sklerosegedächtnis des Oberst war unfähig, diese zu behalten.
Sicher
wären die Zimmer aufgedunsen von Einsamkeit und Sauferei, wäre
da nicht ein ältliches, fast blindes, erbärmliches Hündchen
auf winzigen Beinchen, mit schwarzen Zotteln, das sich auf der
Straße verirrt hatte und das der Oberst Schanetka nannte.
Die
Tochter? Ja die Tochter? Sein geliebtes Kind. Zog zum Mann nach
Nowosibirsk. Ihre wenigen Briefe stapelte er fein säuberlich in
eine blecherne Bonbonschachtel.
Er
erinnerte sich an die verstorbene Mutter. Im Dorf Osjorkoje. Wie
klangvoll sie sang.
Ja,
Cambridge hat er nicht abgeschlossen, aber doch vieles
erreicht...Die Mutter würde sich wundern. Und alles aus eigener
Kraft.
Wind
brachte Unruhe in die Nacht, rüttelte mit Regen am Fenster.
...Wieder
rattern Schützenpanzerwagen. Sonnenverbrannte
Soldatengesichter. Die heisere Stimme des Oberst. Die
afghanische Hitze gibt immer noch eins drauf. Er erkennt seine
Stimme nicht. Der Panzer schaukelt über die Schlaglöcher.
Fressen hat er wohl verlernt. Nur trinken, nichts als trinken.
Da hängt ein Hubschrauber. Eine Leiche auf der Straße. Die
Panzer fahren, die Leiche zerfällt, verdünnisiert sich...
...Ein
verdammtes Arschloch bin ich, denkt der Oberst. Als Junge fing
ich Finken und verscherbelte sie. Und jetzt sitze ich selber im
Käfig. Der benebelnde Duft des Nachtvogels. Die Explosion der
Mine macht ihn taub. Er sackt zusammen. Denkt, nun ist es aus
und vorbei, ist aber nur eine Verletzung, Splitterverletzung im
rechten Schlüsselbein und in der Schulter. Tut noch immer weh
bei Regen...
Der
Oberst öffnete die Augen und wie immer Blick auf die Uhr: 23.49
Uhr.
"Artjom!"
rief der Oberst flüsternd.
Er
spürte, wie der Gedanke knisterte und leichtes Frösteln
schüttelte dort im Spiegel das gewaltige Panzerungetüm. Grob
knirschte der Schmerz in der rechten aufgerissenen Panzerkette
und hallte wider im Oberst.
"Artjom!"
flüsterte der Oberst erneut.
Der
Panzer quietschte und stellte langsam sein riesiges Stahlglied
auf.
Die
Lippen, der Rachen, alles ausgetrocknet. Wie in Afghanistan.
23.52Uhr...53...54...55...
"Teilkreis
dreißig null, aufs Ziel richten - der Oberst schrie. Feuer!
Eine
riesige Spermawolke spritzte in den Himmel.
"Schuß!"
Der Oberst stöhnte in wonniger Erschöpfung.
"Auf
die gefallenen Kameraden, auf diese Milchsauger, fick deine
Mutter...Feuer!
"Schuß!
Fast erstickte er in zitternder Freude. "Ja,
Sauerklee-Blut, bedient euch, vermehrt euch..."
"Feuer!"
"Schuß!"
"Feuer!"
Das
Rohr senkte sich.
"Artjom!"
brüllte der Oberst. "Was ist, deine Mutter sollst du....
Der
Panzer sah jämmerlich aus. Mit aller Kraft schlug der Oberst
mit der Faust in den Spiegel. Scherben klirrten auf die
Badezimmerkacheln.
Der
Oberst hob ein großes Stück Spiegel auf, strich sich den
Schnurrbart.
"Die
Adern ritzen, damit?" Mit dem Spiegelstück streifte er das
Handgelenk. Es blutete. Er kicherte. "Mit der Verwundung
ins Sanitätsbataillon."
Im
Kopf tauchte eine Telefonnummer auf. Wer? Er ging aus dem Bad.
Wählte die Nummer. Eine Frauenstimme.
"Dascha,
Vera, nein, Ljolja."
Die
Frauenstimme ging in eine männliche über.
"Alter
Hurenbock, scher dich zum Teufel, du.....
Der
Oberst legte den Hörer auf, sank schwer auf den Stuhl. In der
Hand noch eine Spiegelscherbe. Er warf sie weg, aber sie
zerbrach nicht.
OO.13
Uhr. Stille. Die Fabrik arbeitete nicht mehr.
Der
Hund jaulte.
"Ach
ja, Schanetka." Der Oberst bückte sich und streichelte das
Hündchen. "Gleich, gleich, wir gehen ja schon."
Er
nahm die Leine, warf den Mantel über, vergaß auch nicht den
Schirm.
Es
nieselte.
Der
Oberst drückte aufs Knöpfchen, schoß mit dem Regenschirm. Die
Leine schnallte er nicht an.
Durch
altbekannte Gassen gingen sie auf den breiten Prospekt. Wenn man
ihn überquert, kommt man zu einer kleinen Grünanlage,
Schanetkas Lieblingsplatz.
Er
stand mit dem Hündchen noch auf dem Bürgersteig, als eine
Menschenhorde wie Dreckwasser aus der Nebenstraße gespült
wurde. Die Horde hatte ihre eigene Ordnung. An den Seiten gingen
junge Männer, mit Maschinenpistolen bewaffnet.
Was
war das?
Das
Trampeln der Soldatenstiefel streifte ihn mit der Freude des
Wiedererkennens. Auf dem Prospekt war es, anders als in den
Gassen, ziemlich hell. Er erkannte das Hakenkreuz an den
Ärmeln.
Ohne
nachzudenken, hob der Oberst vom Bürgersteig ab und hatte seine
Kommandostimme wieder.
"Halt!
Stehenbleiben!"
Der
Oberst warf den Schirm weg und zwängte sich in die Menge.
"Auseinandergehen!
Sind Afghanistankämpfer unter euch?
Mit
einer Hand packte er den Bengel neben sich am Kragen, mit der
anderen versuchte er, die Armbinde vom Ärmel zu reißen. Die
Leine hinderte ihn. Aber der Oberst wollte sie nicht wegwerfen.
"He,
alter Sack, hast du noch alle?"
"Dreckskerl,
Faschist, Sau...In Afghanistan, da hätt ich dir die Schnauze im
grauen Sand..."
Jemand
rammte ihn von hinten.
Schanetka
blaffte. Ein Stiefel holte aus nach ihr. Sie jaulte auf und flog
zur Seite. Der Oberst befreite sich und knallte mit aller Kraft
mit der Leine um sich.
"Das
ist doch ein Jude."
Er
wurde zu Boden geworfen. Mit Füßen getreten.
Die
Horde ließ den Oberst liegen und marschierte weiter
Als
es still wurde, lebte er noch. Der zunehmende Regen spülte
seine Gedankenreste fort. Auf einmal spürte er Wärme in seinem
Gesicht. Das Hündchen leckte ihm Nase, Mund und Ohren.
Schanetka,
dachte der Oberst vernebelt, ich muß nach Hause kriechen. Gegen
Morgen trieb der Wind die Wolken auseinander. In der Grünanlage
schlief ein Betrunkener, mit einem Plastesack zugedeckt. Auf dem
Pfad hüpfte eine Bachstelze. In den alten Linden sangen
Stieglitze und Finken ihre Lieder. Der Lärm der Autos auf dem
Prospekt, die mit ihren Rädern Wasser spritzen, störte sie
nicht.
ABGANG
"Moissej,
ich bin's, Fedja."
"Komm
rein, Fedja!"
Fedja
in weichen Latschen, im blauweiß gestreiften Trainingsanzug,
ist nicht etwa mal vom obersten Stock zu ihm heruntergekommen,
nein, das zweite Jahr schon zwängt er sich in Moissejs Leben.
Seit vor zwei Jahren Moissejs Frau gestorben ist.
"Es
nölt in den Knochen", sagt Fedja.
"Setz
dich, aber zum Nachschlucken gibt`s nur eine saure Gurke für
zwei."
Sie
trinken aus Wassergläsern.
"Du
bist Jude," beginnt Fedja die alte Leier.
Moissej
schweigt.
"Jude,"
sagt Fedja mit Nachdruck. "Warum säufst du wie ein Russe?
Wie ein Loch?" Mit der Hand fährt er durch die Luft und
fügt unerwartet hinzu: "Würdest du Christus jetzt
kreuzigen? Schon gut, brauchst nicht zu antworten. Aber ich
sag´ dir eins, ich würde ihn kreuzigen. Bestimmt. Wie sonst?
Und außerdem, wie soll er denn zum Himmel gefahren sein? Die
Seele, das will mir noch einleuchten."
Sie
trinken noch ein Glas und schweigen lange.
"Warum
hat Gott so viele Völker geschaffen?" fragt Fedja und
stemmt sich mit den Händen schwer auf den Tisch.
"Damit
sie sich befeinden? Nur Juden für alle Zeiten, oder Russen, das
reicht doch. Was meinst du, Moissej? "
"Fedja,
ich werde nicht besoffen, das ist das Schlimme," sagt
Moissej traurig.
"Und
es ödet mich an, mit dir zu reden. Du würdest Christus
kreuzigen, ich nicht."
Moissej
steht auf und öffnet die untere Schranktür. Wodkaflaschen
aufgereiht. Dann zieht er das Schlüsselbund heraus.
"Hier,
mein Wohnungsschlüssel."
"Wozu?"
"Kommst
ohne mich zu mir."
"Und
du?"
Moissej
seufzt
"Es
gibt nur einen Gott. Fedja, du bist ein guter Kerl. Habe mich an
dich gewöhnt. Wirst mir fehlen."
"Was
hast du vor?"
"Ich
gehe zu ihr."
Fedja
schaut Moissej verständnislos an.
"Wohin?"
Moissej
schweigt. Dann sagt er bittend:
"Geh'
jetzt, Fedja. Später kommst du wieder, wenn ich nicht mehr da
bin."
"Mosche,
laß dich küssen!"
"Nicht
doch!" Moissej schiebt ihn mit der Hand weg.
Fedja
seufzt.
"Und
ich wundere mich, daß mir den ganzen Tag die Knochen
nölen."
Draußen
fällt schlotternder Schneeregen. Moissej schreitet, den
Mantelkragen hochgeschlagen, den Kopf in der Mütze versteckt.
Regen und Schnee machen ihn blind. Autos mit gelblichen
Scheinwerfern rasen vorbei.
Unmerklich
löst er sich auf im Regen und Schnee, der Jude.
EIN
NEUES LEBEN
Lärm
hinterm Haus, im Gemüsegarten. Ich springe aus dem Bett. Trete
aus der Diele auf die Schwelle. Im Dunkel ein schwaches, ganz
schwaches Lichtlein. Mein Verstorbener sagte immer: "Finzel
angefinzelt." Und da sehe ich - ein Finzelchen blinkt, kaum
zu erkennen. Ich gehe näher. Ist da doch am Abfallgraben ein
alter Traktor DT-54 mit kaputtem Scheinwerfer in den Beeten
steckengeblieben. Und dieser Scheinwerfer faucht in der
Dunkelheit wie eine Finzel. Und ich mit nackten Füßen in die
Gummistiefel, den Schafpelz überm Nachthemd. Da stehe ich und
weiß nicht, was ich tun soll.
Und
gleich ein Ruck in meinem Schädel: Wieso hat der nur ein
Finzelchen? Guckt mich so kläglich an und mein verrostetes
Witwenherz schmilzt.
"Na,
was ist, Einäugiger?"
Ich
bin scharf auf fremdes Leid.
"Fauch'
doch wenigstens!" sag ich zu ihm.
Ich
weiß nicht wie, aber es kam mir über die Lippen:" Fauch',
Wassja!"
Ich
höre, er knurrt. Was tun- keine Ahnung. Den kann ich doch nicht
mit Kohlsuppe füttern. Obwohl, meine Kohlsuppe ist gut
durchgekocht und durchgezogen, von gestern.
Morgens
finde ich Kerosin und stelle eine Flasche damit in die Ecke.
Freilich, alt ist er, längst ausrangiert, aber eine Flasche tut
bestimmt auch ihm gut.
Nachts
liege ich steif da. Auf einmal hör ich, wie jemand tolpatschig
an die Flurtür klopft. Ich weiß natürlich gleich Bescheid,
sperre die Tür auf und lasse ihn herein.
"Komm
rein, Ausrangierter, machen uns einen gemütlichen Abend."
Als er das Kerosin herunterkippt, glänzt sein Auge. Und er
gleich zum Bett.
"Verrückt,
was?"
Dabei
zittre ich am ganzen Leibe. Hatte lange keine Weiberfreuden
mehr.
"Alter,
laß bloß die Stühle ganz!"
Und
da schmeißt er die Bank um, der Tolpatsch. Ist's eben nicht
gewöhnt. Auf ihm hat man das ganze Leben gepflügt und
gepflügt. Hätten ihn ganz kaputt pflügen können.
"Wassja!"
flüstere ich, "nicht so doll. Wieso zitterst du so mit
deinen Eisendingern? Ich bin doch keine Madame aus der Stadt.
Bin auch durch Hitze und Kälte gegangen. Leg' dich hin. Bleiben
wir eine Weile zusammen, gewöhnen uns aneinander.
Eine
Woche später schreibe ich meiner Schwester, was für ein neues
Leben bei uns im Dorf angefangen hat.
"Galinka,
meine Liebe!
Das
Leben bei uns im Dorf ist erträglich. In den Geschäften kann
man alles kaufen. Alles aus dem Ausland, Bananen gibt es viel,
aber Gummistiefel wie früher auch jetzt nicht. Ich habe jetzt
eine Hilfe gefunden. Weiß gar nicht, wie ich dir das alles
beschreiben soll. Was tun? Im Haus kann man immer einen Kerl
gebrauchen. Und bei mir hat ein ausrangierter DT-54 angeklopft.
Er ist zwar ein Traktor, aber ich nenne ihn Wassja.
Ja,
ein Scheinwerfer ist kaputt und er ist ausrangiert, aber noch
bei Kräften. Der Frühling ist da. Den Garten haben wir für
Kartoffeln gepflügt. Einen alten Pflug habe ich auch
aufgetrieben.
Und
als die Erde vom Pflug bröckelte, Tonerde, habe ich mich und
ihn vor Freude mit dieser ersten Erde besprengt. Er hat
natürlich nicht gelacht, ziemt sich nicht für den Alten. Aber
ich konnte nicht aufhören mit Lachen. So ein Alter, so ein
Einäugiger.
Galinka,
finde doch in der Stadt heraus, ob ich Rente für ihn beantragen
kann. Würde uns nicht schaden. Kerosin ist nämlich sehr teuer.
So
sieht also mein neues Leben aus. Wir werden unsere eigenen
Kartoffeln haben, Bananen brauchen wir nicht.
Viele
Grüße von mir und Wassja. Deine dich liebende Schwester Vera.
3.
In memoriam Ostap Bender
Es
gibt einen schönen Brauch, den Literaturhelden, die die Seele
der Zeit und des Volkes am treffendsten verkörpern, Monumente
aufzustellen. In Madrid steht ein solches Denkmal des edlen
Hidalgo Don Quijote aus La Mancha. Des unverbesserlichen
Idealisten, der am rauhen spanischen Alltag des XVI.
Jahrhunderts scheiterte. In Sankt Petersburg wurde soeben ein
Monument zu Ehren eines russischen Literaturhelden aufgestellt,
der als Antidonquijote gelten darf. Im Geistesleben Russlands
des XX.Jahrhunderts hat die fiktive Gestalt eine, von der
sowjetischen offiziösen Literaturkritik nie zugegebene,
trotzdem aber riesige Rolle gespielt. Ostap Bender. Der Held der
genialen russsischen Schelmenromane von I.Ilf und Je.Petroff
"Zwölf Stühle" und "Das goldene Kalb".
Ein
überaus geschäftstüchtiger Ostap Bender bringt es (in den
Romanen) fertig, unter den Verhältnissen des aufziehenden
"realen Sozialismus" ein Millionenvermögen zu
ergattern. Aber das Geld bringt ihm wenig Glück. Er muss sich
immer als "normaler Werktätiger" hinstellen, damit
die Behörden nicht auf ihn aufmerksam werden. Wenn er was
Schönes kaufen will, stellt sich heraus, dass alles Schöne den
"Helden der sozialistischen Arbeit" vorbehalten und
nicht verkauft, sondern verteilt wird. Und das Mädchen, in das
er sich verliebt, gibt ihm einen Korb, da sie eine
Jungkommunistin ist und das grosse Geld verachtet.
Wie
Sie, lieber Matrjoschka- Freund sehen, eine vom hinten her
aufgezäumte Don- Quijote- Geschichte.
Der
Clou dabei war, dass Ostap Bender den Romanverfassern am besten
gelang. Charmant, witzig, geistreich, fesselte er den Leser mehr
als die parteitreuen, aber blutleeren Genossen aus den nach den
Rezepten des "sozialistischen Realismus"
zusammengeschusterten Werken der regimetreuen Autoren. Zwar
wurden die Homunkuli laut gepriesen, gelesen hat man aber die
Abenteuer von Ostap Bender. Seine Sprüche kannte jeder
auswendig und zitierte sie bei jeder Gelegenheit. Wie überhaupt
seine witzige, saftige, knappe Sprache als ein wohltuender
Gegensatz zur hochtrabenden, wortreichen Eloquenz der
Sowjetpropaganda empfunden wurde.
Nach
der Wende durften die beiden evergreens wieder verlegt werden.
Sie haben der Überwindung der alten Dogmen bestimmt viel mehr
beigetragen als die schnellstens übersetzten und publizierten
Traktate der Gurus der Marktwirtschaft.
So
kann man wohl sagen, dass Ostap Bender das schöne Monument in
Sankt Petersburg allemal verdient hat.
Seine
Story hat aber ein Finale, das hier nicht verschwiegen werden
darf. Als er sich nämlich davon überzeugt hatte, dass seine
Million ihm in der SU wenig nutzt, entschloss er sich, in den
Westen zu fliehen. Kaum war er aber im gelobten Land angekommen,
wurde er nach Strich und Faden betrogen und ausgeraubt. Eine
prophetische Vision seiner Schöpfer?
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