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![]() Wer ist das? Russlands Platz! Russlands
Platz in der europäischen Sicherheitsarchitektur war das Thema der
neuen Runde des Berliner Dialogs von führenden Sicherheitsexperten
aus Deutschland, den USA und Russland. Selbst
das Thema widerspiegelte eine gravierende Veränderung im Denken der
Verantwortlichen im Westen nach den barbarischen Terrorakten in den
USA. Russland, das noch vor kurzem fast wie eine zu vernachlässigende
Größe behandelt worden war, rückte im Westen mit einem Schlag
in den Mittelpunkt des
strategischen Denkens. Ohne Russland, betonte Verteidigungsminister Rudolf
Scharping in seinem Vortrag auf der Konferenz im Berliner Grand Hotel
Esplanade, ist der Kampf gegen den Terrorismus unvorstellbar. Er regte
eine verstärkte Kooperation zwischen der Bundeswehr und den
russischen Streitkräften an. Aber nicht nur das militärische
Potential und die
geopolitische Lage des sich über
zwei Kontinente erstreckenden
Landes gewinnen immer mehr Bedeutung,
sondern und vor allem seine noch bei weitem nicht ausgeschöpften
Wirtschaftsressourcen und die einmalige kulturelle Ausstrahlung.
Die
Diskussionsteilnehmer erinnerten sich
an den jüngsten
Besuch des russischen Präsidenten in Deutschland. Im Deutschen Bundestag rief er zu mehr
Vertrauen im Umgang zwischen dem
Westen und Osten Europas
und zur restlosen Tilgung der Relikte des kalten Kriegs in der
politischen Mentalität auf . Vieles auf der Konferenz korrespondierte
mit dem Appell aus dem Kreml. Es hieß, die Ereignisse hätten
gezeigt, wie stark der
Westen auf Russland angewiesen ist.
Die
Konferenz hat bestätigt, dass das vom Ost-West-Konflikt dominierte
Denken und die daraus erwachsenen Strukturen der Vergangenheit
endgültig obsolet geworden ist. Es geht nicht mehr darum, ob
Russland in die
westlichen Bündnisse integriert wird, sondern nur darum, auf welche
Weise es geschehen soll. In diesem Zusammenhang fanden die gewaltige Anstrengungen Russlands Anerkennung, die in seiner Geschichte wurzelnden Defizite zu überwinden. Die wachsende politische Handlungsfähigkeit und Wirtschaftskraft Russlands ist eine Voraussetzung seiner Beitragssteigerung zur Gewährleistung der umfassenden Sicherheit in Europa und in der Welt. Somit stellt sich die Frage nach der Verbesserung der äußeren Bedingungen für den Fortschritt Russlands. Auch in dieser Hinsicht sollten den Erkenntnissen der letzten Zeit wirksame Taten folgen, hieß es auf der Konferenz. Die Berliner Presse erörtert die Ergebnisse der Konferenz im Zusammenhang mit den hiesigen Debatten über die bevorstehende Entsendung deutscher Soldaten ins Ausland zur Terrorismusbekämpfung. Es wird die Befürchtung geäußert, dass der Einsatz als ein falsches Signal verstanden werden könnte. Denn viel wichtiger für die Ausrottung der Terrorismuswurzeln wäre ein weiterer Schulterschluss der vom Terrorismus bedrohten Staaten im politischen und wirtschaftlichen Bereich. EURO GUT, ALLES GUT? 1. Mein,
der nachdenklichen Matjoschkas, unmittelbare Eindruck bestätigt eindeutig
die Einschätzung der deutschen Regierungsstellen, wonach der Euro bei der
deutschen Bevölkerung gut angekommen sei. Wohin man auch kommt, wird die
neue Währung eindeutig akzeptiert. Obwohl in Meinungsumfragen davor mit
Vorsicht, sogar ablehnend eingeschätzt,
freut sich der Mann von der Strasse auf den Euro. Der eine, weil er davon
einen günstigen Einfluss auf die angeschlagene Wirtschaftlage
Deutschlands, vor allem auf die Lage auf dem Arbeitsmarkt erwartet. Der
andere, weil er eine weitere Europäisierung Deutschlands als
Gewähr gegen die Wiederkehr der unseligen Vergangenheit wünscht.
Dem dritten macht es einfach Spaß, in seinem Portemonnaie die in vielen
anderen europäischen Ländern gültigen Münzen und Banknoten zu haben.
Jedenfalls hört man kaum Äußerungen der Unsicherheit, geschweige der
Angst von der Europäisierung der Währung. Sicherlich
kennt auch die Freude darüber ihre Grenzen. So ist sie mit
der Stimmung der ostdeutschen, genauer gesagt der DDR-Bevölkerung
in der Zeit der Einführung der DM vor zwölf Jahren kaum zu
vergleichen. Damals herrschte eine richtige Euphorie. Verständlicherweise.
Die „Aluchips“, wie die Bevölkerung der DDR die eigene Währung verächtlich
apostrophierte, symbolisierten ein in sich abgekapseltes Regime, das seine
Bürger von der weiten Welt fernhalten wollte. Eins, das ihnen die
Freiheit nahm, sich nicht nur frei zu bewegen, sondern auch frei, eben
nach dem Inhalt des Portemonnaies aus
dem immer größeren Angebot von Waren
und Leistungen zu wählen.
Wenn sich ein DDR-Bürger als Mensch zweiter Klasse gegenüber dem
Landsmann aus dem Westen identifizierte, dann vor allem deswegen. Und
dieses ungute Gefühl wurde ihm auch immer wieder bestätigt. Nicht nur
wenn er in ein sogenanntes Bruderland reiste, wo alles nach der harten
westlichen Währung rief, sondern auch im eigenen Land mit seinen
Intershops, wo nur jemand mit D-Mark einkaufen durfte. Der
ausgesprochen großzügige Umtauschmodus der Mark der DDR zur D-Mark, der
vielen DDR-Bürgern beträchtliche DM-Vermögen bescherte, steigerte nicht
nur den Wunsch nach rascher Wiedervereinigung, sondern auch das
Selbstwertgefühl der Ossis. Die nach der Währungsumstellung eingeleitete
politische Entwicklung wäre sonst in der Form unmöglich gewesen. Das in
ihren Börsen klingende vollwertige Geld gab mehr als jede staatsmännische
Zusicherung die Gewissheit, im neuen, wiedervereinigten
Deutschland als vollwertige Bürger ankommen und alles das in
vollem Maß genießen zu können, was sowohl die politische Freiheit als
auch die freie Marktwirtschaft anbieten. Heute behaupten zu wollen, alle mit der Einführung der D-Mark in Ostdeutschland geweckten Erwartungen hätten sich erfüllt, wäre eine erhebliche Übertreibung. Leider mussten die Ossis lernen, dass eine vollwertige Währung zwar viel, sehr viel, aber nicht alles bedeutet. So ist sie leider keine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, Verarmung und manche andere soziale Übel. Auch die beste Währung entfaltet alle ihre guten Seiten nur dann, wenn vieles andere stimmt. Innen und außen. Ähnliche
Erfahrungen haben übrigens auch die Russen gemacht. Der sowjetische Rubel
war noch mehr als die DDR-Mark eher ein Bezugsschein als
richtiges Geld. Ein Bezugsschein, der verschiedenen Wert hatte. Je
nachdem, in welchem Portemonnaie er
steckte. Ein Angehöriger der Staats- und Parteinomenklatura bekam dafür
in den für einfache Sterbliche gesperrten Läden viel. In allgemein zugänglichen
Läden aber gab es dafür immer weniger, am Ende fast nichts. So
strebte auch ein Russe nach Dollar, DM oder mindestens nach
konvertierbaren Rubeln. Gorbi und Jelzin bescherten ihm das Erwünschte.
Doch kehrte damit auch in Russland das Paradies nicht ein. Sondern vieles,
was die Russen früher nur vom Hörensagen kannten. Arbeitslosigkeit,
totaler Sittenverfall und ausufernde Kriminalität, ein riesiger
Unterscheid zwischen arm und reich. Und auch hier brachte nicht die Währung
selbst die Übel, sondern eine falsche Politik, die eine falsche,
konterproduktive Instrumentalisierung der Währung förderte. Somit
ist auch eine gewisse Skepsis verständlich, die sich neben der Akzeptanz
des Euro in Deutschland, in Russland auch anderswo bemerkbar macht. Sie
ist weniger auf der Strasse oder in den Massenmedien, mehr in
Fachkreisen zu treffen. Manche Experten fragen sich, ob die an sich
vorbehaltlos begrüßenswerte Euroeinführung nicht zu einem
Wirtschaftsallheilmittel stilisiert wird? Ob die notwenigen Korrekturen
der bisher verfolgten Politik damit nicht in die Ferne gerückt werden? 2. Für
die Russen sind sowohl die wirtschaftlichen, als auch die außenpolitischen
Folgen der Euroeinführung von großer Bedeutung. Die ersteren, weil das
Euroland bekanntlich der natürlichste und der größte Handelspartner
Russlands ist. Sichert der Euro den Euroländern einen Wirtschaftsschub,
profitiert auch Russland
davon. Zuerst mal als Exporteur von Energieträgern und Rohstoffen und als
ein Land, das gute Investitionsgüter und Waren des täglichen Bedarfs
produzieren und ausführen kann. So freuen sich die Russen bestimmt, wenn
sie das lesen, womit der erste Teil des vorliegenden Berichtes anfing.
Also darüber, dass der Euro in der deutschen Bevölkerung eine gute
Akzeptanz fand. Denn eine gute, konstruktive Bevölkerungseinstellung zur
neuen Währung der Bundesrepublik hilft, die aktuellen
Wirtschaftsschwierigkeiten zu überwinden. Und da die Russen inzwischen
die Erkenntnis beherzigten, was Deutschland zugute kommt, kommt
auch Russland zugute, würden sie das nur begrüßen. Es
gibt aber leider auch einen Tropfen Bitterkeit im Honigglas. Oder sagen
wir, der Unsicherheit. Wird der Euro
die ohnehin bestehende Trennung Russland vom Euroland
nicht vertiefen? Sollte
dies geschehen, wäre die integrierende Eurowirkung zumindest räumlich
sehr in Mitleidenschaft gezogen. Es ist zwar nicht zu bezweifeln, dass der
Euro die Integration der Länder der Eurogemeinschaft ein großes Stück
voranbringt. Wie aber steht es mit Russland, das, wie es jetzt immer
wieder auch in Deutschland betont wird, zweifelsohne zu Europa gehört.
Kulturgeschichtlich, politisch, aber auch wirtschaftlich. Die
Gefahr, dass der Euro zu
einem Hindernis des näheren Zusammenrückens von Russland und dem übrigen
Europa werden kann, liegt auf der Hand. Und die avisierte
Euroosterweiterung, die Russland links liegen lässt, trotz mancher
anderslautender Äußerungen, erhöht eher die Gefahr. Das
heißt selbstverständlich nicht, dass Russland den Anspruch stellt,
sofort oder auch in nächster Zukunft ins Euroland aufgenommen zu werden.
In Russland ist man sich bewusst, dass die wirtschaftlich starken Länder
des Euroraums, vor allem Deutschland, ohnehin bestimmten neuen Belastungen
ausgesetzt sind. Unter den Ländern, die sich auf die Einführung des Euro
freuen, sind auch einige, die die Kriterien der Euroeinführung mit
Ach und Krach erfüllen konnten. Wenn sie ihre wirtschaftlichen
Probleme nicht in den Griff kriegen, kann das den Euro stark belasten. Dem
vorzubeugen, ist eine schwierige Aufgabe, vor der das Euroland steht. Und
die Stabilitätssicherung wird noch schwieriger, wenn
die Anwärter in Mittel- und Osteuropa die Schwelle überschreiten.
Kein ernstzunehmender Staatsmann in Russland denkt daran, die ohnehin
komplizierte Lage mit einem unrealistischen Vorstoß zusätzlich zu
belasten. Aber es gibt wohl in Russland auch keinen ernstzunehmenden Europa orientierten Politiker, der sich keine anderen, konstruktiven Gedanken macht. Und zwar darüber, wie der eventuelle negative Einfluss der Euroeinführung auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Russland und Euroland, insbesondere Deutschland relativiert werden kann. Vorläufig ist das Sache von Experten. Aber auch die breite Öffentlichkeit sollte nicht wegsehen. Denn eine tiefgehende Störung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ist eine schlechte Voraussetzung für die engere politische Zusammenarbeit. Und wie wichtig die ist, müsste jedem klar sein, der die Gefährdung der abendländischen Zivilisation durch innere und äußere Probleme ahnt. 3.
In der Nähe meines Wohnhauses befindet sich ein Kindergarten mit einem großen Sandkasten im Hof. Als ich unlängst vorbeiging, beobachtete ich, wie die putzigen Kinder sich rauften. Beim näheren Hingucken stellte sich heraus, der Auslöser war eine Blechform. Jeder wollte sie haben, um seine Burg zu verzieren, aber der augenblickliche Burgbauer gab sie nicht her. Da
ich kurz davor eine
Stellungnahme der EU gelesen hatte, die dem Euro eine große
friedenssichernde Wirkung
bescheinigte, schien mir der Vorgang im
Sandkasten symbolträchtig. Mit anderen Worten, es kommt nicht nur
darauf an, dass man einen gemeinsamen Sandkasten
hat, sondern auch darauf, dass kein Player auf Kosten der anderen
etwas daraus machen will. Und dies erfordert eine Mentalität, die
manchmal nicht nur kleinen Kindern fehlt. Auch historisch gesehen, bewahrheitet sich das. Zwar gab es in der Geschichte Europas nie eine Zeit, als in verschiedenen Ländern mit gleichen Banknoten bezahlt wurde. Das Papiergeld erforderte immer eine nationalstaatliche Absicherung, sonst hatte es kaum Wert. Aber vor Jahrhunderten waren bekanntlich Goldmünzen das begehrteste Zahlungsmittel. Und die Golddukaten waren hin und wieder ein Zahlungsmittel, das in fast jedem europäischen Land mit Handkuss akzeptiert wurde. Und zwar unabhängig davon, wo sie geprägt waren. Den europaweiten Frieden hat es leider nicht gewährleistet. Den Frieden in der ganzen weiten Welt schon gar nicht. Auch in unserer Zeit ist wohl nicht zu erwarten, dass die gemeinsame Währung automatisch Friede und Freude in Europa und erst recht außerhalb sichert. Das können wir am Beispiel des Dollars sehen, dessen Verbreitung als Zahlungsmittel weit vor der des Euro liegt. Nicht nur die ungeheuere Wirtschaftsmacht der USA sichert die dominierende Stellung des Dollars, sondern auch ihre dominierende Militärmacht. Der Siegeszug des Dollars stand im unmittelbaren Zusammenhang mit der Politik der amerikanischen Besatzungsmacht in Europa und in Asien nach der siegreichen Beendigung des Zweiten Weltkriegs. Mit der weltweit dominierenden US–Force im Rücken konnte der Dollar auf seine Liaison mit dem Gold verzichten. Und obwohl viele Sachkundigen behaupten, er sei viel zu hoch bewertet, sind alle Euroversuche, ihm Paroli zu bieten, gescheitert. Böse Zungen behaupten jetzt sogar, die weltweite Suche nach den vermeintlichen Terroristenhäuptlingen Bin Laden und Mullah Omar hätten außer dem unmittelbaren Anlass, dem schrecklichen Verbrechen in New York, auch das Streben der USA-Geldmagnaten im Hintergrund, die Dollarstärke aufrechtzuerhalten. Auch im Zusammenhang mit der Etablierung des Euro in Mittel- und Westeuropa und seiner zu erwartenden Ostverbreitung. Wie gesagt, war es auch früher leider so, dass Militärmacht eingesetzt wurde, um der eigenen Währung größere Geltung zu verschaffen. Wenn sie im Gefolge einer siegreichen Truppe kam, musste auch eine schlechte Münze akzeptiert werden. Nolens volens. Notgedrungen. Ja, leider ist die Verbreitung einer Währung nicht mit der Verbreitung des Friedens gleichzusetzen. Bei aller Annerkennung der völkerverbindenden Rolle des Euro, kann er kein Ersatz sein für eine konsequente Friedenspolitik. Auch nicht für die Abrüstung. Für friedensbewegte Koalitionen. Weder in noch außerhalb Europas. Wie auch in anderen Fällen bringt das Geld, sei es noch so gut, keine Glückseligkeit. Es ist nur ein Mittel. Und wofür dieses eingesetzt wird, hängt von den Menschen ab. Also auch von uns, sowohl von jenen, die bereits mit dem Euro gesegnet sind, als auch von jenen, die darauf noch lange und geduldig warten müssen. POTANIN IN BERLIN In Berlin präsentierte sich einer der reichsten und auch einflussreichsten Männer Russlands, der vierzigjährige Wladimir Potanin, der Öffentlichkeit. Vor nicht allzu langer Zeit versuchte ein anderer russischer Günstling der Stunde, Boris Beresowski, die Berliner zu bezirzen. Das gelang ihm schlecht. Die meisten Berliner haben zwar nichts gegen milliardenschwere Industrielle. Auch nicht gegen die aus Russland. Aber diese dürfen sich nicht wie der französische Sonnenkönig aus dem XVII. Jahrhundert nach dem Motto aufführen - der Staat bin ich. Beresowski verstand das nicht. Deswegen kam er schlecht an in Berlin und nach dem Rücktritt Jelzins auch bei den neuen Machthabern in Moskau. Jetzt ist er weit weg vom Fenster. Potanin,
Chef der mächtigen Interros-Holding, ist aus einem anderen Holz
geschnitten. Zwar stellt auch er sein
Licht nicht unter den Scheffel, aber prahlt nicht.
Ein russischer Neureicher, der keineswegs ins
Klischee vom neuen Russen passt. Kompetent, eloquent, mit viel
verhaltenem Humor. Das in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zahlreich versammelte Publikum war von der Person Potanin höchst angetan, vor allem jedoch von dem Bild, das er vom zukünftigen Russland entwarf. Er sieht die russische Zukunft optimistisch- und das nicht nur, weil er selbst zu den größten Gewinnern der Transformation gehört. Er meint, die Russen haben alles, um ihr Land voranzubringen. Alles außer lückenloser Rechtssicherheit für Geschäftsleute. Das wird nachgeholt. Die neue Regierungsmannschaft um Putin hätte bereits viel erreicht und lässt nicht nach in ihrem Bemühen, den russischen und ausländischen Geschäftsleuten einen günstigen Tätigkeitsrahmen zu schaffen. In der kurzen Zeit nach Putins Machtantritt sei viel mehr dafür getan worden, als in den allen Jahren unter Jelzin. Jetzt geht es darum, die neuen Gesetze arbeiten zu lassen. Die Bürokratie, die Gesetzeslücken nutzt, um Geschäftsleute an die Kasse zu bitten, leistet Widerstand. Aber mit Putin sei nicht zu spaßen. Potanin hält es für richtig, wenn in der Wirtschaft nur Gewinn zählt. Er meint, von einem guten Geschäft profitieren letztendlich alle. Seine deutschen Zuhörer waren zum Teil einer anderen Meinung. Sie richteten an den Wirtschaftsmogul aus Russland heikle Fragen. Was wird denn aus den Menschen, die ihre Arbeitsplätze verlieren, wenn unrentable Betriebe in Russland- wofür er plädierte- geschlossen werden? Und was unternehmen die erfolgreichen Unternehmer, damit ihre Geschäftserfolge nicht mit der Zerstörung der Umwelt erkauft werden? Potanin schien trotz seiner Intelligenz von den Fragen überrascht. Bleibt zu hoffen, dass er sich damit von nun an intensiver beschäftigt. Jedenfalls zeigte sein Besuch, dass die russischen Grossunternehmer in Deutschland, wo sich der Raubkapitalismus nie so ungehindert wie anderswo entfalten konnte, etwas von sozialer Verantwortung mitkriegen. Noch ein Beweis der Nützlichkeit der engen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland.
DIE
GESELLSCHAFT FÜR AUSWÄRTIGE POLITIK IN BERLIN SCHLOSS DIE DIESJÄHRIGE
VERANSTALTUNGSREIHE MIT FÜHRENDEN RUSSISCHEN POLITIKERN AB. BEIM
ABSCHLUSSSYMPOSIUM STAND DER DUMAABGEORDNETE WLADIMIR RYSHKOW IM
MITTELPUNKT.
Um
Wladimir Ryshkow ist es in letzter Zeit in Moskau stiller geworden. Der jüngste
Duma-Abgeordnete, der es in den vorigen Jahren bis zum Vizespeaker des
russischen Parlaments gebracht hatte, erhielt nach der neuen Dumawahl
keine bedeutende Funktion. Das hängt aller Wahrscheinlichkeit nach damit
zusammen, dass er sich für die Anpassung Russlands an die Forderungen
der westlichen Staatengemeinschaft
zu eifrig einsetzte. Eine Haltung, die nach Putins Amtsantritt im
Kreml nicht unbedingt hoch honoriert
wird.
In
seinen Ausführungen zum Stand der Beziehungen zwischen Russland und der
Europäischen Union deutete der Gast aus Moskau selbst an, woran es liegt.
Es gab nämlich viel Betriebsamkeit um
die Gestaltung des Europäischen Hauses mit Russland, doch die Ergebnisse
liegen weit unter den geweckten Erwartungen. Auf keinem Feld der
Zusammenarbeit ist es gelungen, einen entscheidenden Durchbruch zu
erzielen. Sowohl in der europäischen Sicherheitspolitik, als auch in der
politischen Koordination und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit
sind die vage formulierten Vereinbarungen zumeist auf dem Papier
geblieben. Aus dem Munde eines Mannes, der noch vor kurzem Feuer und
Flamme war, als es um die Aussichten der russischen Integration im europäischen
Haus ging, klang diese Feststellung ziemlich bitter.
Die
Schuld für die Versäumnisse verteilte Wladimir Ryshkow gleichmäßig an
beide Seiten. Der Europäischen Union warf er vor, Russland eher verbal
als unverzichtbaren Teil des
neuen Europas zu akzeptieren und weniger
in der praktischen Politik. Russland sei, wie er meinte, auch nicht
ohne Schuld, da es zu viel nach Asien blicke, auch in die Richtung der
ehemaligen zentralasiatischen Teilrepubliken der Sowjetunion. Besser
sollte es sein ganzes Streben
nach Europa richten.
Im
Übrigen zeigte sich Ryshkow auch davon enttäuscht, dass das russische
Engagement in der Antiterrorkoalition
nicht die erwartete Dividende bringt. Auch in dem Falle sei außer
Spesen bis jetzt wenig gewesen. Die Aufkündigung des Vertrages zur
Begrenzung der strategischen Rüstungen von 1972 durch die USA beweise
sehr deutlich, was
die wortreichen guten Absichtserklärungen wert sind.
Skeptisch
äußerte sich der frühere unkritische Anhänger des Westens aus Moskau auch über die jüngste Initiative des britischen
Premierministers Tony Blair. Die Zusammenarbeit
zwischen der Allianz und Russland würde dadurch kaum gedeihen.
Diese brauche keinen neuen
Diskussionsklub, sondern eine Institutionalisierung, die Russland das
Mitspracherecht sichert. Bis jetzt hätte aber die NATO auf Russland wenig
Rücksicht genommen. Das warf einen Schatten auch auf das Verhältnis
zwischen Russland und der EU.
Der
recht trübseligen Übersicht über die gegenwärtigen Beziehungen
zwischen Russland und dem vereinten Europa
stellte Ryshkow seine Zukunftsvision entgegen. Er sei guter
Hoffnung, da beide Seiten auf eine viel engere Zusammenarbeit angewiesen
sind. Ohne Russland bleibt
das vereinte Europa unvollständig, ist militärisch und wirtschaftlich
nicht gesichert. Auch
Russland ist auf die
weitere Annäherung an Europa angewiesen. Insbesondere nach der
anvisierten Osterweiterung der EU, die eine lange
gemeinsame Grenze zur Folge hat.
Eine
vollständige Integration Russlands in die EU erwartet er aber erst in
zwanzig Jahren. Bis dahin gilt es, den
schönen Worten über das europäische Haus
Annäherungstaten folgen zu lassen. Jahrhunderte lang war Russland
ein Teil Europas und wird es
wieder, welche Hindernisse sich auf dem Weg auch aufrichten mögen.
Zum
Abschluss der Veranstaltung würdigten die zahlreichen Anwesenden das Bemühen
der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, der deutschen Öffentlichkeit
Russlands Sorgen und Hoffnungen aus erster
Hand zu vermitteln. 18.12.01 EUROPA OHNE GRENZEN? In Berlin fand die internationale Konferenz "Europa ohne Grenzen" statt. In der folgenden Beitragsreihe unter dem Titel "Grenzenloses Europa: Erfolge und Defizite" fasst Matrjoschkin seine Eindrücke von der Konferenz zusammen. 1.Worauf die mangelnde Zustimmung zur Grenzenlosigkeit zurückzuführen ist. Im Weltsaal des Domizils des deutschen Auswärtigen Amtes in Berlin, wo die Konferenz stattfand, waren viele Klagen über die mangelnde Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur europäischen Integration zu hören. Die fehlende Integrationsbegeisterung der Deutschen bedauerten die prominentesten Konferenzteilnehmer, darunter auch Bundeskanzler Gerhard Schröder. In diesem Zusammenhang wurde sogar über solche gefährlichen Trends wie der wachsende Fremdenhass in der Bundesrepublik gesprochen. Einem Zuhörer, der die russischen Befindlichkeiten gut kennt, kommt die beklagte mangelnde Zustimmung der Deutschen zu Europa ohne Grenzen seltsam vor. Denn die Russen träumten jahrzehntelang von transparenten Grenzen. Sogar die regimetreuen billigten selten den von der Sowjetmacht errichteten Eisernen Vorhang. Erst recht hassten ihn die regimekritischen Russen. Vielmehr erhofften sie sich von der Öffnung des Landes zum Westen den raschen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt, einen riesigen Zivilisierungsschub. Sie wollten frei reisen, sich nicht nur aus sowjetischen Quellen informieren, im Westen studieren. Auch wenn sie die Haltung nicht artikulieren durften, waren sie in der Tiefe ihrer Seelen wahre Anhänger des grenzenlosen Europas. Für einen Russen ist deswegen schwer nachvollziehbar, dass viele Deutsche dem Prozess der Abschaffung der Grenzen in Europa immer öfter die kalte Schulter zeigen. Wo liegt der Grund, muss er sich fragen. Ist es tatsächlich - wie es auf der Konferenz in Berlin mehrmals zum Ausdruck gebracht wurde- die mangelnde Aufklärung der Bevölkerung? Liegt es also daran, dass die Deutschen nicht oft und nicht hartnäckig genug mit der Nase auf ihr Glück gestoßen werden? Kaum zu glauben. Denn in Deutschland wird offensichtlich eine Menge getan, um die Vorzüge eines Europas ohne Grenzen herauszustellen. Öffentliche Veranstaltungen, Medienberichte... Die Intensität der Aufklärung erinnert einen, der die Sowjetpraktiken noch nicht vergessen hat, an die Wahlpropaganda in der Sowjetunion. Da die Wahlen unfrei, also keine waren, sollte die Propaganda umso intensiver sein. Darüber wurden unzählige Witze erzählt. Zum Beispiel folgender: Mascha beklagt sich bei ihrer Freundin, dass bei ihr die Wäsche ungebügelt herumliegt. Warum? fragt diese. Hast du kein elektrisches Bügeleisen? Doch, sagt Mascha. Aber wenn ich es einschalte fängt es womöglich an, mir von den bevorstehenden Wahlen zu erzählen. Der Witz deutete ein durchaus ernsthaftes Problem der Sowjetmacht an. Es bestand darin, dass die Propaganda immer weniger ausrichten konnte. Je massiver betrieben, desto mehr erzielte sie das Gegenteil des Beabsichtigten. Anstatt die Bevölkerung um die Staatsmacht zu konsolidieren, vertiefte sie den Graben zwischen der Staatsmacht und der Bevölkerung. Warum? Weil die nackten Tatsachen des Alltags, die Gott sei dank durch keine Propaganda auf die Dauer wegzureden sind, die Einstellung der Menschen stärker beeinflussten als die virtuelle Realität in den Medien. Die Erkenntnis, die durch das ruhmlose Ende des Sowjetregimes bestätigt wurde, gilt wohl für alle Gesellschaftsordnungen. Auch für die, wo im Unterschied zur gewesenen Sowjetunion die Meinungsfreiheit nicht nur gesetzlich verankert, sondern auch tatsächlich möglich ist. Denn es kommt letztendlich darauf an, welche Meinung in den Medien dominiert und welche marginalisiert wird. Und in Deutschland dominiert eindeutig der Trend, die Vorzüge der Integration herauszustellen. Und wenn sich die politische Prominenz trotzdem darüber beklagen muss, dass die Bevölkerung mit der Integration nicht- oder nur unzureichend- mitgeht, dann lässt sich das nur mit der immer breiter werdenden Kluft zwischen den geweckten Erwartungen und den tatsächlichen Erfahrungen der Bevölkerung erklären. Die Kluft ist aber- wie die sowjetische Geschichte lernt- durch keine "Aufklärung" zu überbrücken. ------------------------------------------------------------------------------------------ 2. Die Grenzenlosigkeit mit Ausgrenzung. Zu den Defiziten der Integration in Europa gehört, dass sich die Abschaffung der Grenzen in Europa selektiv vollzieht. Einige europäische Barrieren sind verschwunden oder verschwinden, andere sind geblieben oder werden sogar höher. Letzteres gilt vor allem für die Grenze zwischen dem sich integrierenden Europa und dem größten europäischen Land, Russland. Trotz vieler Versprechen scheint es, dass im gemeinsamen europäischen Haus für Russland kein Platz reserviert ist. Es muss draußen bleiben. Es heißt, seine Aufnahme in die europäische Integration sei mit vielen Problemen verbunden. Deswegen soll sie unterbleiben. Das ist keine gute Werbung für das grenzenlose Europa. Vor allem in Russland selbst. Im ersten Beitrag dieser Sendereihe war bereits davon die Rede, dass sich die Russen noch zur Zeit des von der Sowjetmacht errichteten Eisernen Vorhangs nach freien Kontakten mit den hoch zivilisierten europäischen Ländern sehnten. Und als das Regime, das aus seinem totalitären Machtanspruch heraus die Kontakte unterdrückte, abgeschafft wurde, glaubten die Russen, die Stunde der Freizügigkeit sei gekommen. Bald aber stellte sich das als großer Irrtum heraus. Der Vorhang an der Westgrenze ihres Landes entsteht aufs neue. Er wird jetzt von der Seite errichtet, die jahrzehntelang den früheren, vom Osten her aufgebauten Eisernen Vorhang aufs schärfste verurteilte. Tatsächlich wird die Visabeschaffung für die Russen, die in den Westen wollen, immer schwieriger. Die russischen Warenlieferungen in den Westen bleiben bestenfalls auf früherem, sehr niedrigem Niveau. Auch der Kulturaustausch lässt viel zu wünschen übrig, droht zu einer Einbahnstrasse zu werden. Unter solchen Umständen geht die Bewunderung für das grenzenlose Europa in Russland stark zurück. Ein Trend, der alle russischen Freunde der Völkerverständigung und der internationalen Zusammenarbeit in Russland tief beunruhigt. Darüber sprach übrigens auf der Konferenz in Berlin der bekannte russische liberale Politiker Grigori Jawlinski. Unter anderem wird aus dieser Ecke darauf hingewiesen, dass die Ausgrenzung Russlands den Rechts- und Linksradikalen dort die Richtigkeit ihrer feindseligen Einstellung zum Abendland quasi bescheinigt. Mag sein, auch viele Deutsche nehmen es mit Freude hin, dass Russland ausgegrenzt wird. Schließlich bekommen sie in den Medien ein wenig schmeichelhaftes Bild vom Russen vorgesetzt. Als seien die Russen, die morden, rauben und klauen, ein Querschnitt der russischen Bevölkerung. Der Bevölkerung eines Landes mit einer großen, eigenständigen kulturellen und ethischen Tradition. Doch unabhängig davon, ob die Ausgrenzung Russlands in der deutschen Bevölkerung viel Zustimmung findet, untergräbt sie das Image des grenzenlosen Europas. Denn die transparenten Grenzen zum Westen hin sind für die Deutschen selbst kein Novum. Aber die europäische Integration sollte eigentlich den ganzen Kontinent umfassen. Wäre das erreicht, könnte sie jeden Europäer wirklich beeindrucken. Wird die Integration jedoch nur selektiv betrieben, verliert sie an Glaubwürdigkeit, an historischer Größe. Eher schon erscheint sie als ein Werk der Tagespolitiker und Brüsseler Technokraten. Deswegen ist es wohl einem Deutschen oder einem anderen Europäer kaum zu verübeln, wenn er auf die europäische Integration nicht euphorisch reagiert. Und die Politiker, die sich über sein mangelndes Verständnis für die Fortschritte der Integration beklagen, haben eigentlich keinen Grund dazu, denn die Schuld müssten sie zuerst mal bei sich selbst suchen. 3. Der ewige Friede lässt auf sich warten. Defizite der Integration hängen mit Abstrichen bei der Friedenspolitik im Europa ohne Grenzen zusammen. Einst verbanden sich mit der europäischen Integration euphorische Hoffnungen auf den ewigen Frieden in Europa. Die Urheber der Integration wurden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die Bestrebungen, das eigene Territorium auf Kosten der Nachbarländer zu erweitern, früher immer wieder zu verheerenden kriegerischen Konflikten auf dem Kontinent führten. Die Abschaffung der Grenzen sollte die Ursache des Übels aus der Welt schaffen. Es entstand eine Vision des friedfertigen Europas, wo nicht Waffen, sondern Diplomaten alle Konflikte schlichten, und nicht Gewalt, sondern nur Gesetz und Vernunft regieren. Auch die Russen waren von dieser Vision fasziniert. An sich keineswegs militaristisch, gingen sie mehrmals in ihrer Geschichte Parolen vom ewigen Frieden auf den Leim. Ihre Herrscher wussten es gut zu nutzen. Die Zaren hausierten mit Plänen der allgemeinen Abrüstung, erst recht empfahlen sich die Sowjetführer als kompromisslose Friedenskämpfer. Leider hinderte das sowohl die einen, als auch die anderen daran, Wettrüsten zu treiben und Kriege anzuzetteln. Jetzt fühlen sich viele Russen wieder betrogen. Diesmal von der Vision des grenzenlosen und deswegen auch friedlichen Europas. Eines, wo die Abschaffung der Systemunterschiede nach der großen Wende der achtziger Jahre jede kriegerische Auseinandersetzung überflüssig machte. Eines, das alle Ressourcen von nun an nur für den friedlichen Aufbau nutzen würde. Die jüngsten kriegerischen Ereignisse auf dem Balkan nahmen dieser Vision viel an Glaubwürdigkeit. Der Luftkrieg der NATO enthüllte, dass die Gewaltlosigkeit in Europa eher ein frommer Wunsch ist, noch weit von der Realität entfernt. Auch im grenzenlosen Europa regieren nicht allein Vernunft und Gesetz, sondern das Recht des Stärkeren. Sollten die USA das Ziel verfolgt haben, mit dem von ihnen eingeleiteten Feldzug auf dem Balkan die europäische Integration in den Augen der Europäer, insbesondere der Russen, herabzusetzen, müsste man Washington zum vollen Erfolg gratulieren. Es ist den Amis gelungen, unter den Russen Misstrauen gegenüber der Vision vom Europa ohne Grenzen zu wecken. Aber auch in Deutschland und in den anderen europäischen Ländern stärkte der Balkankrieg die Akzeptanz der Integration kaum. So behaupten wenigstens die Soziologen. Auch nach dem militärischen Konflikt auf dem Balkan ereignete sich einiges, was die Vision vom integrierten und deswegen friedlichen Europa trübte. Zum Beispiel der von den USA verkündete und vom neuen Herrn im Weißen Haus bekräftigte Wille, ein neues Raketensystem aufzubauen, das heißt eine neue Runde des Wettrüstens auch in Europa einzuleiten. Keine auf der Konferenz in Berlin geforderte Aufklärung der Bevölkerung kann diesen Sachverhalt schönreden und die Frage aus der Welt schaffen, ob das integrierte Europa nicht Gefahr läuft, vom NATO- Hauptverbündeten missbraucht zu werden. Schließlich ist möglich, dass das Europa ohne Grenzen in die von den USA gewiesene Richtung marschiert. Jedenfalls besteht die Gefahr so lange, bis sich die politische Führung des integrierten Europas deutlich von dem Globalplayer distanziert und sich auf die eigenen Aufgaben und Interessen voll besinnt. 4. Die blühenden Landschaften rücken in weite Ferne. In den Äußerungen der Urheber der europäischen Integration wurde oft und nachdrücklich darauf hingewiesen, dass das Wegfallen der Grenzen in Europa vor der europäischen Wirtschaft neue Horizonte eröffnet. Das stimmt natürlich. Größere Wirtschaftsräume ermöglichen es, die Arbeitsteilung weiter zu treiben und die Produktivität zu heben. Aber die Möglichkeiten eines größeren Wirtschaftsraumes werden nur dann positiv ausgenutzt, wenn er nicht von gegenläufigen Interessen dominiert wird. Sonst tritt das Gegenteil des Erhofften ein. Die ehemaligen Sowjetbürger können ein Lied davon singen. Nach der Oktoberrevolution 1917 vollbrachten sie eine epochale zivilisatorische Leistung. Die riesigen Gebiete des untergegangenen Zarenreiches, wo vor der Revolution zum Teil noch mittelalterliche Zustände herrschten, wurden der Abgeschiedenheit entrissen. Sie wurden Teil eines einheitlichen Wirtschaftsraumes. Ihre Bevölkerung ging zum Aufbau einer modernen Industrie über. Es entfaltete sich hier ein intensiver Austausch von Waren, Arbeitskräften, Know-how. Leider aber führten die Machtgelüste der sowjetischen Führung, die bei der Integration vor allem darauf erpicht war, ihr eigenes Süppchen zu kochen, zur Pervertierung der Wirtschaftspolitik. Anstatt die Produktivkräfte sinnvoll im Land zu verteilen, erzwang der Kreml die wirtschaftlich unsinnige, politisch aber zweckmäßige Verteilung der Standorte, darauf gerichtet, die Peripherie abhängig zu halten. Und anstatt den freien Wettbewerb der Marktteilnehmer zu fördern, wurden riesige, aus dem Zentrum der Macht geleitete Monopole geschaffen. Das Ergebnis ist allgemein bekannt. Die Wirtschaft wurde in ihrer Entwicklung gehemmt, das Lebensniveau der Bevölkerung sank. Die Wirtschaftsmisere wurde zu einer wesentlichen Ursache des Untergangs der Sowjetunion. Wir wollen nicht den Teufel an die Wand malen, aber die Probleme der EU erinnern ein wenig an diese unheilvolle Entwicklung. Obwohl das politische Fundament in der gewesenen Sowjetunion und der heutigen EU grundverschieden ist, werden auch hier Industriestandorte wohl nicht nur unter rationellen Gesichtspunkten verteilt. Sonst gäbe es im grenzenlosen Europa keine Regionen, in denen die Produktivkräfte weitgehend brach liegen. Wie zum Beispiel in den neuen deutschen Bundesländern. Von manch einem Staat im Süden des vereinten Europas schon gar nicht zu sprechen. Die vom Gewinnstreben um jeden Preis diktierte Wirtschaftsentwicklung ließ im grenzenlosen Europa manche Barrieren höher werden. Zwar sind sie nicht mit Grenzsteinen markiert, aber durchaus real. Es sind die Barrieren zwischen armen und reichen Ländern. Leider nimmt das Wohlstandsgefälle zu. Die daraus resultierenden Grenzen trennen alle ehemaligen sozialistischen Länder Europas vom anderen Teil des Kontinents. Gott sei dank gibt es entlang der Trennungslinie keinen Stacheldraht mehr. Sie ist aber auch jetzt gut sichtbar. Wenn auch auf eine andere Weise. Erst recht trifft das auf die Westgrenze Russlands zu, das von der Weltwirtschaft nur als Exporteur von Energieträgern und Rohstoffen akzeptiert wird, also als ein Geschäftspartner, dem nicht gegönnt wird, am wirtschaftlichen Verkehr vollwertig teilzunehmen. Obwohl gerade Russland auch in der Hightech viel zum allgemeinen Fortschritt beitragen könnte. Die von den führenden Wirtschaftskräften der EU erzwungene Verteilung der Industriestandorte und die Rollenverteilung im Welthandel schlägt auf die Bevölkerung der höchstentwickelten Länder zurück, da diese wie auch die alten Bundesländer in Deutschland im grenzenlosen Europa oder Russland im Verband der Sowjetrepubliken zu Blutspendern für die zurückgebliebenen Regionen werden mussten und aller Wahrscheinlichkeit nach eine unbestimmte Zeit bleiben. Und wie Russland der Gefahr ausgesetzt sein, dadurch selber ärmer werden. Zwar gibt es in der EU keinen Kreml, wo bürokratische Richtlinien für die Standortverteilung erarbeitet werden, die der ersten Verpflichtung jeder Wirtschaft, Menschen zu dienen, Hohn sprechen. Aber auch hier geht es anscheinend nicht nur mit rechten Dingen zu. Sonst hätten sich längst die versprochenen blühenden Landschaften in den Ländern und Regionen aufgetan, die sich dem Europa ohne Grenzen angeschlossen haben beziehungsweise anschließen wollen. Derselbe Vergleich lässt sich in Bezug auf die Monopolisierung der Wirtschaft anstellen. In der Sowjetunion vollzog sich die Monopolisierung bürokratisch und ihr Urheber war die politische Führung mit ihren Machtgelüsten. In der EU geht es ganz anders. Aber die Auswirkungen sind auch nicht sehr segensreich. Eine Fusion folgt der anderen. Der Wettbewerb wird dadurch nicht gerade gefördert. Preissteigerungen und Massenentlassungen sind die Folge. So bleiben die wirtschaftlichen Folgen der europäischen Integration Otto Normalverbraucher weitgehend verschlossen. Und keine auf der Konferenz in Berlin geforderte bessere Aufklärung kann ihn darüber hinwegtäuschen, wenn der Alltag ihn eines anderen belehrt. 5. Die virulente Rückseite der Grenzenlosigkeit. Es geht um jenen virulenten Aspekt des Europas ohne Grenzen, der in mehreren Ansprachen auf der Konferenz so oder so zum Ausdruck kam. Also zum Beispiel um die Verbreitung des Rinderwahnsinns. Oder, genauer gesagt, der Viren dieser Seuche, was dem Wort virulent seinen ursprünglichen Sinn zurückgibt. Wie kein anderes Ereignis der letzten Jahre rief die Seuche den Europäern die spezifischen Gefahren der Abschaffung der Grenzen ins Bewusstsein. Denn in ihrem Bemühen, die Epidemie zu bremsen, sind die Europäer durch nichts anderes so stark behindert wie gerade durch das Fehlen einer wirksamen Grenzkontrolle. Verdächtiges Rindfleisch, das zum Beispiel in Deutschland nicht in den Verkauf darf, wird in die Nachbarländer exportiert, um dann bereits mit einem Unbedenklichkeitszeugnis nach Deutschland zurückzukommen. Europa ohne Grenzen macht es eben möglich. Zu den mit dem Aufkommen des Rinderwahns offensichtlich gewordenen Defiziten der europäischen Integration muss auch gezählt werden, dass die Freizügigkeit von der ganzen internationalen Kriminalität ausgiebig genutzt wird. Eben von der ganzen, nicht nur von der russischen, wie es einem deutschen Fernsehkonsumenten und Boulevardpresseleser scheinen mag. Denn in den deutschen Fernsehkrimis, jenem Teil des Programms also, der besonders viel konsumiert wird, und in der Boulevardpresse sind die Russen die schlimmsten ausländischen Übeltäter. Obwohl die Polizeistatistik eine andere Sprache spricht. Sie wird aber weitgehend ignoriert. Vielleicht soll die einseitige Darstellung die Ausgrenzung Russlands in den Augen der Öffentlichkeit rechtfertigen. Die Ausgrenzung als eine Art unumgängliche Quarantäne erscheinen zu lassen. Obwohl gerade sie einen günstigen wirtschaftlichen und moralischen Boden für die steigende Kriminalität schafft. Und kein neuer, vom Westen her errichteter «Eiserner Vorhang» könnte dagegen etwas ausrichten. Abgesehen davon, dass er unweigerlich zu einem politischen Rückschlag in Russland führen würde, zu einer Wiederherstellung der Zustände, wie sie einmal waren. Und obwohl nicht nur die Russen für die grenzenüberschreitende Kriminalität verantwortlich gemacht werden müssen. Nach der Öffnung Russlands gegenüber dem Westen mussten vielmehr gerade die Russen bittere Erfahrungen machen. Manche der erwarteten Wohltaten blieben aus. Dafür aber traten massiv Nachwirkungen ein, die alles andere als Wohltaten sind. Drogenschmuggel, Einfuhr ungenießbarer Lebensmittel und gefälschter harter Getränke, Aids, Pornographie. Alles Vorgänge, die zu den gegenwärtigen akuten Schwierigkeiten Russlands beitrugen und früher in dieser Anhäufung kaum in Erscheinung traten. Und notabene: Die Verbrechen wurden nicht allein, vielleicht auch nicht so sehr von den Russen selbst, sondern vielmehr auch von ausländischen Glücksrittern verübt. Die traurigen Erfahrungen der Russen mit den transparenten Grenzen erklären, warum die Öffnung des Landes, noch vor wenigen Jahren fast einhellig und sogar euphorisch begrüßt, jetzt von einem wachsenden Teil der Bevölkerung mit ganz anderen Augen gesehen wird. Immer mehr Russen prägen sich vorwiegend jene Folgen der Öffnung ein, die ihr Leben schwerer und unsicherer machen. Und manche wünschen sich sogar den Eisernen Vorhang zurück, der das Land von fremden Glücksrittern schützte, die Einfuhr von Drogen und Falsifikaten verhinderte und auch einheimischen Spekulanten die Geschäfte erschwerte. Leider ist die Umkehr zur Abschottung nicht ganz auszuschließen, insbesondere wenn die Diskriminierung Russlands weiter betrieben wird. Die negativen Aspekte der Grenzenlosigkeit werden wohl nicht nur in Russland immer stärker gesehen. Das geschieht auch in den anderen europäischen Ländern. Umso mehr, dass die positiven Folgen der Integration zum Teil noch in Spe sind und deswegen vom Durchschnitt der Bevölkerung kaum erlebt werden können. Auch in dieser Hinsicht erscheint die mangelnde Akzeptanz der europäischen Integration zum Beispiel in Deutschland, die in der Konferenz «Europa ohne Grenzen» mehrfach bedauert wurde, wenn nicht legitim, dann mindestens verständlich. Als ihre Ursache die unzureichende Aufklärung der Bevölkerung ausmachen zu wollen, ist wohl zu einfach. Keine Aufklärung, sprich Propaganda, kann über die handfesten Tatbestände hinwegtäuschen. Und dass die Stimmung in der Bevölkerung die rechten Extremisten ausnutzen, die, wie die orthodoxen Kommunisten in der sowjetischen Führung vergangener Jahre, grundsätzlich gegen Integration sind, verwundert auch nicht. So unbedarft sind auch sie nicht, dass sie die günstige Gelegenheit ungenutzt lassen würden. 6. Das Fazit. Während der Konferenz, die im Weltsaal des Auswärtigen Amtes in Berlin stattfand, wurde oft festgestellt, dass die europäische Integration eine ganz neue Etappe der europäischen Geschichte einleite. Zweifelsohne ist das richtig. Die Integration entspricht tatsächlich den neuen Begebenheiten auf dem Kontinent. Wenn die mehr oder weniger stabilen und befestigten Staatsgrenzen dem Zeitalter der Kanonen gerecht waren, dann verloren sie nach der Umrüstung der europäischen Streitkräfte auf die Waffen der letzten Generation jede sicherheitspolitische Berechtigung. Und erst recht machen die Globalisierung der Wirtschaft und neue Kommunikationsmittel die Grenzen anachronistisch. Vom Anbruch einer neuen Zeit kündeten die entscheidenden Ereignisse der Jahre 1989- 1990. Zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde Deutschland ohne einen einzigen Tropfen Blut vereinigt. Zum ersten Mal in der Geschichte Europas gingen große geopolitische Verschiebungen auf dem Kontinent friedlich vor sich. Die begrüßenswerte Wende in der europäischen Geschichte zur Gewaltfreiheit darf aber nicht täuschen. Abgesehen vom unheilvollen NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien, der, wenn man den Beteuerungen der westlichen Politiker folgt, eine Ausnahme darstellt, bedeutet Gewaltfreiheit nicht Konfliktfreiheit. Konflikte zwischen den Staaten und Staatengruppierungen sind keineswegs aus der Welt. Und wenn sie Gott sei dank auch ohne Waffeneinsatz entschieden werden, dann leider nicht ohne Opfer. Denn mit gezielter Wirtschaftspolitik oder mit dem Zwang zum Wettrüsten kann man dem Gegner oder Rivalen auch ohne Waffeneinsatz tiefe Wunden schlagen. Ein Beispiel dafür ist Russland. Es verliert jedes Jahr so viele Menschen, als stünde es in einem verheerenden Krieg. In westlichen Analysen wird oft festgestellt, dass die Russen selbst daran schuld sind. Es wird auf ihr schwieriges Erbe und auf die Unzulänglichkeit ihrer politischen Führung hingewiesen. Das alles mag stimmen. Aber auch das Andere stimmt, was in der deutschen Fachliteratur und sogar in der Publikumspresse immer öfter angedeutet wird. Und zwar, dass die westliche Führungsmacht, die USA, um die Festigung und den Ausbau ihrer nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gewonnenen dominierenden Stellung in der Welt besorgt ist. Deswegen will sie Russland daran hindern, wieder hochzukommen. Um jeden Preis, auch um den Preis von Millionen dahinscheidender Russen, denen es an Nahrung, medizinischer Versorgung und anderen Voraussetzungen des Überlebens mangelt. Noch vor kurzem wurden derartige Vermutungen in Deutschland pauschal als Antiamerikanismus verworfen. In letzter Zeit aber wird mit dem Begriff vorsichtiger umgegangen. Der Ton der Berichterstattung der deutschen Medien über die USA, ihre Politik, ihre Rolle in Europa und in der Welt hat sich geändert. Nicht weil die Medien dem Antiamerikanismus verfielen, sondern weil die USA nach dem Zusammenbruch des Ostblocks als globalplayer zunehmend mit den Europäern ins Gehege kommen. Die in der EU integrierten Länder geraten immer mehr unter den Druck der USA. Natürlich ist der Druck bei weitem nicht so hart wie der, dem Russland ausgesetzt ist, aber immerhin. Die Modalitäten der europäischen Integration, insbesondere die sich trotz aller Beteuerungen vollziehende Ausgrenzung Russlands, entsprechen bei weitem nicht der neuen Interessenlage Europas. Daraus resultieren viele Defizite der europäischen Integration, die in dieser Sendereihe nur zum Teil skizziert sind. Aber die existentiellen Erfordernisse der Zeit bahnen sich hartnäckig den Weg. So ist es zu hoffen, dass die europäische Integration nicht ewig mit ihren Defiziten behaftet bleibt. Früher oder später erhält das Europa ohne Grenzen eine Konfiguration und eine innere Gestalt, die den Europäern maßgeschnitten sind und ihre noch aus der Zeit des letzten Weltkrieges stammende Abhängigkeit von den USA endgültig ad acta der Geschichte legen werden. Es ist allerdings zu wünschen, dass es früher als später passiert. Jedenfalls früh genug, um den irreparablen Folgen eines zu großen Verzugs vorzubeugen. Erst dann wird Europa ohne Grenzen das, was es sein soll. Erst dann wird es von der ganzen Bevölkerung des Kontinents voll akzeptiert. Und wenn dann eine neue Konferenz über Europa ohne Grenzen zusammenkommt, wird sie bestimmt viel überzeugender, als jene, die jetzt in Berlin stattfand. 26.1.01 DAS PROTOKOLL: RUSSLAND UND DIE EU Am 9.11 tagte der Matrjoschka- Redaktionsrat. Diesmal erstattete die feinsinnige Matrjoschka (Abb. links) einen Bericht. Und zwar über eine Vorlesung zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft der europäischen Integration, die der Altbundeskanzler Helmut Schmidt in der Humboldt-Uni zu Berlin hielt. Gleich zu Beginn der Sitzung gab es einen Störversuch seitens der aufräumenden Matrjoschka, die immer nach einem Haar in der Suppe sucht. Mit ihrem Besen fuchtelnd, von dem sie sich nie trennt, wollte die Hexe wissen, warum die feinsinnige Schwester, der nach Arbeitsteilung im Matrjoschkakollektiv die Berichterstattung über die Kunst obliegt, zur politischen Vorlesung gegangen war. Die Feinsinnige begründete es mit der Person des Referenten. Sie erinnerte daran, dass er nicht nur ein Regierungschef war, der in den siebziger Jahren die Bundesrepublik geschickt durch die Klippen des damals noch geteilten Europas steuerte, sondern auch kultur- und kunstbeflissen ist. Es erscheinen von ihm immer wieder Bücher, die er- im Unterschied zu manch einem anderen Staatsmann- selbst schreibt. Er sammelt Bilder, ist ein Klaviervirtuose. Alle Bundeskanzler vor und nach ihm könnten sich von seinem Wissen um die Kultur- und Kunstgeschichte Europas eine dicke Scheibe abschneiden. "Ich fühle eine Art Seelenverwandtschaft mit ihm!" sagte die feinsinnige Matrjoschka verschämt, nahm ihre Brille ab und putzte sie. Du, die Leisetreterin, spürst Seelenverwandtschaft mit Schmidt-Schnauze?- ließ die Aufräumende nicht locker. Brake! sagte hier die Mitteilsame vermittelnd. Es kommt schließlich nicht auf die Person an. Viel wichtiger ist, was Herr Schmidt zur europäischen Integration gesagt hat. Was also hat er von sich gegeben? Er verwies auf die großen Erfolge des Prozesses, der nach seinen Worten unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg eingesetzt hatte, sagte die Feinsinnige. Die Terminierung wäre kein Zufall, da erst die schreckliche Erfahrung des gegenseitigen Zerfleischens die Europäer zur Einigung veranlasste. So? fragte hier spöttisch die zornige Matrjoschka, für ihre nicht bewältigten kommunistischen Vorurteile traurig bekannt. – Ich habe gedacht, dass die ersten Schritte der europäischen Integration auf Geheiß der Amerikaner erfolgten, die dem sowjetischen Vormarsch in Europa einen Riegel vorschieben wollten. Zwar begehrten die Kommunisten auch eine Art Integration, die Kriege unmöglich machen sollte, aber nur unter dem Banner des Klassenkampfes, also gegen die Eliten der westlichen Gesellschaft. Also, Bürgerkrieg? fragte herausfordernd die Aufräumende. Gott sei Dank, dass er sich im Wesentlichen kalt abspielte. Sonst wäre Europa rot. Vom Blut. Hätte es also die Gefahr aus dem Osten nicht gegeben, wäre der Prozess nicht zum Zuge gekommen, sagte die reiselustige Matrjoschka, welterfahren und liberal. – Zu einem anderen Geburtshelfer der Integration, führte sie weiter aus, wurden antideutsche Ressentiments. Das sich nach dem Krieg schnell erholende Deutschland musste an die Kandare genommen werden, damit es nicht noch einmal Unheil anrichtet. Ein verständlicher Wunsch. Nach Herrn Schmidt war der Ursprung ein anderer. Und zwar die tiefen Einsichten von Jean Monet und anderer Franzosen, einschließlich sogar de Gaulle, sagte die Feinsinnige. Stimmt auch, bestätigte die Reiselustige. Sie haben nämlich rechtzeitig erkannt, dass die Amis nicht freiwillig aus Europa gehen und wollten ein Gegengewicht schaffen. Und der schlaue Adenauer hat mitgemacht. Wie dem auch sei, setzte die Feinsinnige ihren Bericht fort, - beeindruckte mich Helmut Schmidt stark. Spielte er denn Klavier? warf die lustige Matrjoschka ein, die sich sehr witzig wähnt. Die Feinsinnige ging auf die dumme Replik nicht ein. Sie sagte, sie war davon beeindruckt, dass im ganzen stundenlangen Vortrag des Herrn Schmidt den Amis nur ein einziges Mal ein anerkennendes Wort zuteil wurde. Und auch das unterkühlt. Das ist ein Zeichen der Zeit, sagte sie. Ein richtiger Europäer! meinte die Mitteilsame anerkennend. Besonders deutlich kam die Unvereinbarkeit der Interessen Europas und den USA in der Zukunftsvision des Altbundeskanzlers zum Ausdruck, setzte die Feinsinnige fort. Er listete die vielfältigen Herausforderungen des XXI. Jahrhunderts auf- Verseuchung der Umwelt, die zu erwartenden Flüchtlingsströme aus den im Elend versunkenen "farbigen" Regionen, Überhandnahme von globalen Geldspekulationen und vieles andere mehr. Und immer wieder kam heraus, dass die Amis davon viel weniger betroffen werden als die Europäer. Wenn überhaupt. Darum müssen die Europäer immer näher rücken. Nur so werden sie die vielfältigen Bedrohungen abwehren können. Also, ein Fan der Integration auf Teufel komm raus? – fragte die nachdenkliche Matrjoschka. So würde ich es nicht sagen, entgegnete die Feinsinnige. Herr Schmidt hat mit Recht festgestellt, dass Europa seine Kraft immer aus der Vielfalt seiner Kultur schöpfte. Die Integration so weit zu treiben, dass die Völker des Kontinents ihre Identitäten einbüssen, hieße, ihnen das Lebenselixier wegzunehmen. Vielmehr müssen sie in ihrem heimatlichen Boden verankert bleiben. Hat er das gesagt? fragte die Nachdenkliche. So konnte man ihn verstehen, antwortete die Feinsinnige. Aber er bejaht doch, dass die EU-Staaten immer mehr Eckpfeiler ihrer Souveränität selbst absägen? bohrte die Nachdenkliche. Bis jetzt war es die wirtschaftliche Eigenständigkeit, die eigenen Währungen einbezogen, die aufgegebenen wurde. Jetzt geht es um die Delegierung sicherheitspolitischer und militärischer Entscheidungen, insofern sie von der NATO nicht berührt sind, an die supranationalen Gremien der EU und um die Bildung gemeinsamer Streitkräfte. Die Reduzierung der Belange des Nationalstaates lässt sich schwerlich mit dem Erhalt der europäischen Vielfalt unter einen Hut zu bringen, - räumte die Feinsinnige ein. Darauf machte sein Coreferent, Horst Teltschik, ehemaliger Kanzleramtschef unter Kohl, Herrn Schmidt aufmerksam. Den kannst Du, Schwester, tatsächlich für einen Fan der Integration ohne Wenn und Aber halten. Stritt er denn mit Herrn Schmidt? erkundigte sich die Nachdenkliche. "Streiten" ist wohl in dem Falle kein richtiges Wort, sagte die Feinsinnige. Schließlich fand die Veranstaltung nicht im Deutschen Bundestag statt. Herr Teltschik lobte Herrn Schmidt. Übrigens so überschwänglich, dass mitunter der Eindruck entstehen musste, er täte es, um den an die Macht gelangten Parteifreunden der 82-jährigen eins auszuwischen. Aber bei allem Lob widersprach er ihm wenigstens in zwei Punkten. Den einen habe ich bereits erwähnt. Der zweite betraf die EU-Erweiterung. Herr Schmidt plädierte dafür, die beitrittswilligen Länder Ost- und Südeuropas noch einige Jahre im Vorzimmer schmoren zu lassen. Wenigstens solange, bis die EU ihre akuten Probleme, wie z.B. die überwuchernde Bürokratie, löst. Herr Teltschik dagegen sprach sich dafür aus, den EU-Aspiranten möglichst schnell die Tür öffnen. Sonst könnten sie es noch überlegen- und die europäische Integration bleibt unvollendet. Herr Teltschik ist überhaupt die Personifizierung von Sturm und Drang,sagte sachkundig die geschichtsbewusste Matrjoschka. - Bekanntlich setzte er 1990 die Vorgehensweise gegenüber Russland durch. Und die Geschichte hat ihm Recht gegeben. Hätte Bonn damals gezögert, die Gunst der Stunde zu nutzen, dann wäre Freund Michael weg vom Fenster, bevor er zu allen deutschen Wünschen Ja und Amen sagte... A propos Russland... sagte die Mitteilsame. Erwähnten Herr Schmidt und Herr Teltschik unser Herkunftsland überhaupt? Nur am Rande, sagte die Feinsinnige. Der Altbundeskanzler äußerte, Russland, Belorussland und die Ukraine haben zwar eine Chance in die EU aufgenommen zu werden, aber erst im XXII. Jahrhundert. Alle Matrjoschkas außer der Feinsinnigen sprangen auf. "Was? schrie die Geschichtsbewusste. Erst in 100 Jahren! Warum?". Weil Herr Schmidt meint, erst nach drei-vier Generationen lernen die Russen, was Demokratie und freier Markt sind, -sagte die Feinsinnige, wegen der schnöden Äußerung ihres Idols sichtlich betrübt und verlegen. Mich wundert es nicht, sagte die Geschichtsbewusste bitter. – Noch vor dreißig Jahren prophezeite Schmidt-Schnauze, Russland werde zu Obervolta mit Atombomben und Raketen. So sieht er unsere Heimat heute. Sogar Herr Teltschik gab zu verstehen, - lispelte die Feinsinnige, - dass er Russland anders sieht. So stellte er fest, die Demokratisierung sei in Russland viel mehr als in China gediehen, dem Herr Schmidt großen Fortschritt bescheinigte... Die Russen seien lernfähig, wollte er damit andeuten. Und ob! sagte die Geschichtsbewusste. Die Russen haben im XX. Jahrhundert zwei autoritäre Regimes zum Teufel gejagt: das zaristische und das sowjetische, sie haben eine starke Wirtschaft aufgebaut, einen grausamen Krieg gewonnen und den Menschenkindern den Weg zu den Sternen gebahnt. Welches Volk in Europa ist lernfähiger und kreativer als sie? Wenn das neue Europa sie außen vor lässt, stimmte die Mitteilsame ein, dann raubt es sich die Kräfte, die es braucht, um den von Herrn Schmidt aufgezählten Herausforderungen zu begegnen. Und sie erklärte die Sitzung für beendet. 9.11.2000
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