Die Puppen sind anklickbar Der
Berliner Verlag Wostok edierte ein Album mit Abbildungen russischer
Soldatenfriedhöfe in Deutschland. Nicht alle Bestattungsstätten der in Deutschland 1945 gefallenen Rotarmisten sind hier abgebildet. Auch für ein großformatiges Fotoalbum von 190 Seiten sind es zu viele. Nach einigen Schätzungen nur in Ostdeutschland gibt es mehr als drei Tausend Massengräber mit etwa 420 Tausend Angehörigen der Roten Armee. Darunter sehr aufwendig gestaltete wie die Gedenkstätte im Berliner Treptower Park und ganz schlichte Friedhöfe, wie man sie in vielen kleinen Städten Ostdeutschlands findet. Die Herausgeber des Albums sind deutsche Freunde Russlands, die ihre freie Zeit der Erfassung und Pflege der steinernen Zeugen der für die Befreiung Deutschlands gebrachten russischen Opfer widmen. In den Begleittexten stellen die Herausgeber fest, dass sich die meisten Grab- und Erinnerungsstätten in einem guten Zustand befinden. Der Verfasser dieses Beitrags kann das aus eigener Anschauung bestätigen. Er lässt keine Gelegenheit aus, während seiner Reisen durch Deutschland den Grabstätten seine Reverenz zu erweisen. Und es wird ihm warm ums Herz, wenn er wahrnimmt, dass die ehemaligen Kameraden in der deutschen Erde, wie es so schön heißt, sanft ruhen. Er meint, dass es keinen besseren Beweis der Versöhnung zwischen zwei Völkern geben kann, denen beiden er sich verbunden fühlt. In zwischenstaatlichen Vereinbarungen zwischen Deutschland und Russland ist die Verpflichtung der deutschen Seite festgeschrieben, die Grabstätten zu erhalten und zu pflegen. Aber in der hiesigen Einstellung zu den Gedenkstätten kommt viel mehr als die Vertragstreue zum Ausdruck. Darin spiegelt sich die Reue über die Untaten, die nach Hitlers Geheiß in Russland begangen wurden. Der Wille zur vorbehaltslosen Versöhnung mit dem russischen Volk. Und die Erkenntnis, dass das eigene Kriegsleid den wahren Schuldigen, das heißt Hitler und Konsorten, und niemandem sonst aufzubürden ist. Zwar wird im Album auch erwähnt und sogar dokumentiert, dass manche Grabstätten dem Vandalismus oder politisch motivierter Zerstörung zum Opfer fielen. W semje ne bez uroda, würden die Russen dazu sagen. In einer Familie gibt es eben auch missratene Kinder. Aber nicht diese geben in Deutschland den Ton an. In diesem Zusammenhang muss der Berichterstatter leider darauf hinweisen, dass die Verpflichtung der russischen Seite, den deutschen Soldatengräbern in Russland Schutz und Pflege angedeihen zu lassen, auch nicht immer konsequent befolgt wird. So kam es unlängst in der Umgebung der russischen Stadt Kursk, wo 1943 eine der größten Panzerschlachten des Zweiten Weltkrieges tobte, zu von Demagogen eingefädelten Protesten gegen die Errichtung eines angemessenen Friedhofs für die gefallenen deutschen Soldaten. Zwar wähnen sich die Protestierer, russische Patrioten zu sein, aber ihr Verhalten ist alles andere als typisch russisch. Noch vor vielen Jahrhunderten sagten die Russen in der jetzt etwas archaisch anmutenden Sprache „Mertwyje sramu ne imut.“ Ungefähr übersetzt, die Toten trifft keine Schande. Erst recht stimmt es, wenn es um irregeführte Soldaten geht, die für eine schlimme Sache sterben mussten. Und damit schon gebüßt haben. An diesen Toten späte Rache nehmen zu wollen, ist schäbig. Es verletzt nur die in der russischen Mentalität tief verwurzelte Pietät gegenüber dem Tod und die russische Tradition der Großzügigkeit gegenüber dem geschlagenen Feind. Allerdings ist das Kursker Geschehen eher ein Einzellfall. In vielen anderen Gegenden Russlands entstehen mit Zustimmung der Bevölkerung würdige deutsche Soldatenfriedhöfe. Und die sich damit beschäftigten Russen werden oft durch die Eindrücke von Gedenkstätten für die russischen Soldaten in Deutschland inspiriert. Der letzte Dienst der Gefallenen an ihre Vaterländer besteht in der Mahnung, die Wiederholung des Gewesenen nie zuzulassen. Darin liegt auch der tiefere Sinn der Friedhöfe, die im Album „Sowjetische Gräberstätten und Ehrenmale in Ostdeutschland“ mit viel Sorgfalt dem deutschen Publikum vorgestellt sind. Den Herausgebern und dem Verlag ist dafür zu danken. 13.4.05 ------ Vor sechzig Jahren brach unter den Schlägen der Koalition der Westmächte mit der Sowjetunion der Hitlerstaat zusammen. Insofern haben sich die ungeheueren Opfer gelohnt, die Soldaten und Zivilisten vieler Länder im Zweiten Weltkrieg für den Sieg über Hitler bringen mussten. Auch die Opfer Russlands. Bekanntlich waren diese weitaus größer als die der anderen Länder der Antihitlerkoalition. Trotzdem ließen sich nicht alle Ziele der Russen verwirklichen. Darunter ein Ziel nicht, das in einem etwas naiven, nichtsdestoweniger vom Verfasser und seinen Kameraden liebend gern gesungenen russischen Soldatenlied des Zweiten Weltkrieges, apostrophiert wurde. Der ewige Friede. Er blieb auch nach dem Krieg ein Traum. Denn die ganze Nachkriegszeit war von bewaffneten Auseinandersetzungen geprägt. Und auch heute winkt der ewige Friede uns nicht. Obwohl der Streit zwischen dem Kommunismus und dem Kapitalismus, von vielen für die Quelle akutester Kriegsgefahr gehalten, der Vergangenheit angehört. Überall triumphiert die bürgerliche Demokratie und die freie Marktwirtschaft. Nach den Beteuerungen ihrer Bewunderer sollten sie uns endlich den ewigen Frieden bringen. Aber es ist nicht an dem. Leider. Allerdings hat die Gesellschaftsordnung, die den Russen nach ihrer Abkehr vom Kommunismus als das Allheilmittel vorkam, auch in manch anderer Hinsicht versagt. Zum Beispiel bei einer gerechteren Verteilung des Reichtums. Im internationalen und nationalen Rahmen. Das führt zu Spannungen, die in der Vergangenheit oft blutige Folgen hatten. Auch in der Gegenwart und der Zukunft sind wir wohl davor nicht ganz gefeit. Sonst könnten wir ruhiger schlafen. An die gescheiterten Versuche, den ewigen oder wenigstens einen dauerhaften Frieden zu gewährleisten, muss in diesen Tagen erinnert werden. Auch vom Standpunkt eines russischen Frontsoldaten des Zweiten Weltkrieges aus. Das ist er den gefallenen Kameraden schuldig. Und vielen am Leben gebliebenen Kameraden, die nur ihre Jugend der Abwehr der Gefahr für ihr Vaterland opferten. Das Wörtchen nur ist allerdings hier fehl am Platze. Denn die Jugend ist das schönste Stück des Lebens. Und unersetzbar. Aus oben dargelegten Gründen darf der sechzigste Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus nicht unter dem Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ begangen werden. Das wäre übrigens auch nicht im Sinne der russischen Veranstalter der Feierlichkeiten und sicherlich auch nicht der aus der ganzen Welt nach Moskau eingeladenen Staatsmänner. Und gewiss nicht der meisten Russen, die darauf hoffen, dass die Friedensvision, in ihrer Mentalität tief verwurzelt, doch einmal Gestalt annimmt. Da der Verfasser bereits viele Jahre in Deutschland lebt, glaubt er übrigens feststellen zu dürfen, dass sich die Mentalität der Deutschen von der der Russen wenigstens in dem Punkt nicht groß unterscheidet. Er meint die Deutschen von Heute. Bürger eines Landes, das nach der Erfahrung des Verfassers zu den friedfertigsten in der Welt gehört. Trotz oder vielmehr infolge der deutschen Vergangenheit. Allerdings dürfen wohl nicht nur die Deutschen von Heute, sondern auch die von vorgestern nicht über einen Kamm geschert werden. Schließlich hat man in diesem Land dem großen Philosophen zugejubelt, der das Traktat vom ewigen Frieden schrieb. Damals, vor zweihundert Jahren, gab es noch keine Massenvernichtungswaffen. Trotzdem sah Immanuel Kant im ewigen Frieden den kategorischen Imperativ der Erhaltung des Menschengeschlechtes. Wie viel mehr gilt der Imperativ heute. Mit dieser wenig originellen These beschließt der Verfasser seine Beiträge aus Anlass des sechzigsten Jahrestages der Zerschlagung des Hitlerfaschismus. Zu guter Letzt will er daran erinnern, dass in diesem Jahr zwei weitere bemerkenswerte Daten bevorstehen. Der fünfzigste Jahrestag der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland und der fünfzehnte Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung. Die Daten hängen miteinander und mit der Zerschlagung des Hitlerfaschismus zusammen. Der Verfasser hat vor, auch zu diesen Jubiläen etwas an dieser Stelle zu bringen. Mal sehen, ob und was daraus wird.
7.4.05 ---------
Als der Verfasser nach drei Jahren Fronteinsatz im Westen und einigen Monaten im Fernen Osten endlich ins zivile Leben entlassen wurde, hörte er im Militärzug ein gefühlvolles Lied. Es handelte von einem aus dem Militärdienst entlassenen russischen Soldaten. Von einem, der durch halb Europa marschieren musste. Als der Krieg zu Ende war, kam er nach Hause. Von seinem Dorf blieb nur eine Brandstätte. Er ging zum Friedhof und sah dort grobe Holzkreuze mit den Namen seiner im Krieg getöteten Familienangehörigen. Er machte eine Pulle Wodka auf, trank daraus, setzte sich auf einen Stein und heulte.
Die Kameraden sangen das Lied gern. Sie konnten seine Stimmung nachvollziehen. Zwar ging es nur einer Minderheit so schlimm wie dem Soldaten im Lied. Die meisten Rückkehrer fanden doch ein Dach über dem Kopf. Obwohl im von Hitlertruppen zeitweilig besetzen Teil der Sowjetunion ein Drittel der Wohnungen zerstört oder unbrauchbar wurde und die Wohnungsnot unvorstellbar groß war. Auch verloren die meisten nicht alle Angehörigen. Obwohl es so gut wie keine Familie in Russland gab, die niemanden verlor.
Trotzdem war auch für jene, denen es besser als dem Soldaten im Lied ging, die Rückkehr ins zivile Leben nicht nur von Freude geprägt. Schon deshalb nicht, weil das Nachkriegsleben in der Sowjetunion nicht freier wurde als das Vorkriegsleben. Eher schon unfreier.
Es wollte nicht in den Kopf, warum das Volk, das anderen Völkern Europas die Befreiung brachte, selbst keine Freiheit genießen durfte. Nach dem Sieg, der die Russen mehr kostete als alle andere Nationen zusammengenommen.
Vor allem fiel es ehemaligen Frontsoldaten schwer, sich damit abzufinden. Denn sie kamen als Sieger zurück. Selbstbewusster und welterfahrener, als sie in den Krieg gingen. Viele wollten die Zustände im eigenen Land zum Besseren ändern. Aber es wurde dafür vorgesorgt, dass sie es nicht tun konnten. Und dies schuf böses Blut.
Zwar waren wir überglücklich, dass die tödliche Gefahr für das Vaterland abgewendet wurde. Das war das Wichtigste. Nichtsdestoweniger träumten wir von einer Erneuerung Russlands.
Leider war es unserer Generation nicht gegeben, diese Erneuerung durchzusetzen. Aber den nächsten Generationen schon. Den Söhnen und Enkeln der Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Sie erbten die Vision ihrer Väter und Großväter. Die Vision von einem neuen Russland. Und verwirklichen sie.
Dieses neue Russland ist noch im Werden. Aber der Anfang, bekanntlich immer das Schwerste, ist getan.
Die Mühlen der Geschichte mahlen eben langsam. Aber sie stehen nicht still. Sie mahlen.
Auch sechzig Jahre danach.
------ Unmittelbaren Anlass für diesen Beitrag gab ein umfangreicher Pressebericht in einer soliden deutschen Zeitung. In diesem Bericht wurde der Name eines sowjetischen Schriftstellers strapaziert. Er hieß Ilja Erenburg. Obwohl er mit seiner Kriegspublizistik in Deutschland bekannt wurde, war er vor dem Krieg hauptsächlich Novellen- und Gedichteschreiber . Übrigens kein schlechter. Trotzdem von der sowjetischen Kritik immer wieder gerügt. Sie bemängelte an seinen Werken, dass sie nicht den von der Kommunistischen Partei festegelegten Normen entsprachen, sondern ihre Vorbilder im Westen suchten. Tatsächlich hat er die meiste Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in Frankreich zugebracht. So ließ sich der Frankophile, als er in den Jahren des Zweiten Weltkrieges in die Kriegspublizistik ging, möglicherweise von der französischen antideutschen Propaganda des Ersten Weltkrieges inspirieren. Jedenfalls waren seine in der sowjetischen Presse nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion veröffentlichten Philippiken anders als viele andere, die demselben Thema galten . Vor allem dadurch, dass er die Erblast Deutschlands betonte, was bei den eigenständigen, marxistisch geschulten sowjetischen Publizisten selten vorkam. Sie kehrten die Liaison Hitlers mit dem Monopolkapital hervor. Die frühere deutsche Geschichte seit Adam und Eva ließen sie in Ruhe. Damit beschäftigten sich mehr die westlichen Autoren, die ihr Werk in den Dienst der Kriegspropaganda stellten. Sie bescheinigten den Deutschen angeborene Schlechtigkeit. Auch Erenburg schlug gerne in diese Kerbe. So boten seine Zeitungsbeiträge eine gute Angriffsfläche für jene, die den Sowjetstaat bezichtigten, die Ausrottung des deutschen Volkes als Rache für Verbrechen in Russland im Schilde zu führen. Vor allem für Hitlers Propagandaminister, Dr. Josef Goebbels. Dieser Oberhetzer und Russenhasser zitierte Ilja Erenburg ausgiebig, wenn es darum ging, die deutschen Soldaten in der Schlussphase des Krieges für das sinnlose Sterben auf dem Schlachtfeld zu gewinnen. Dabei verfälschte er Erenburgs Texte nach Bedarf. Die von Goebbels erfundenen und bei Erenburg nie nachgewiesenen Parolen werden auch jetzt in den deutschen Medien nicht selten zitiert. Und zwar nicht als infame Goebbelsfälschungen, sondern als Originalton Erenburg. Seit März 1945 musste Erenburg allerdings anders schreiben. Denn er bekam einen Dämpfer aus dem Kreml. In einem von Stalin selbst inspirierten, nach einigen Hinweisen sogar eigenhändig geschriebenen und im Parteiorgan Prawda veröffentlichten Beitrag wurde Erenburg daran erinnert, dass die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk und der deutsche Staat aber bestehen bleiben. Diese Formel Stalins prägte übrigens die offizielle sowjetische Politik während des Krieges. Ob der Grundsatz allerdings in der Praxis befolgt wurde, steht auf einem anderen Blatt. Nach dem Prawda- Beitrag begann der Stern des Publizisten Erenburg verblassen. Er widmete sich wieder mehr der schöngeistigen Literatur und kehrte bald in sein geliebtes Paris zurück. Allerdings auch in der Zeit davor spielte er nicht die Rolle, die ihm in Deutschland angedichtet war. Jedenfalls ist es lächerlich, ihn für Exzesse nach dem Einmarsch der Roten Armee verantwortlich zu machen. In dieser Zeit brauchten jene sowjetischen Soldaten, die vor Ausschreitungen nicht abgehalten werden konnten, keinen Erenburg, um sich so zu verhalten, wie sie sich leider verhielten. Sie brauchten sich nur daran zu erinnern, welche verheerenden Spuren die deutsche Wehrmacht auf der russischen Erde hinterließ, um auszurasten. Erenburg haben sie aber kaum gelesen. Selbst seine raffinierte Schreibweise sprach mehr die Intellektuellen in Moskau, als Bauernsöhne an, die aus ihren entlegenen Dörfern, wo man keine Zeit und keine Lust hatte, viel zu lesen, unter die Fahnen gerufen wurden. An der Front erlebte der Verfasser oft, was mit den Zeitungen passierte, wo Erenburg seine Essays veröffentlichte. Und zwar wurden sie, kaum eingetroffen, sorgfältig zu Streifen zerschnitten und für selbstgedrehte Zigaretten verarbeitet. Und ob da der nächste Beitrag Erenburgs abgedruckt wurde oder nicht, änderte daran nichts. Denn die Kameraden wollten Zeitungspapier, nicht das, womit es bedruckt wurde. 19.3. 05 -----------------
Viele Gespräche auf der diesjährigen Berlinale drehen sich um einen russischen Film. Das ist kein neuer Film. „Panzerkreuzer Potemkin“ wurde vor sage und schreibe achtzig Jahren gedreht. In diesen acht Dezennien machte die Filmtechnik einen gewaltigen Sprung nach vorn. Ihr heutiger Stand lässt sich an neuesten Hollywoodproduktionen ablesen, die im Programm der Berlinale vertreten sind. Aber „Panzerkreuzer Potemkin“, der noch mit Steinzeitkameras gedreht wurde, hat das, was keine moderne Technik und keine Animation allein zustandebringen. Das innere Feuer eines Kunstwerkes, das mehr als ein Kunstwerk ist. Und zwar eine leidenschaftliche Botschaft an die Menschen, freier, gerechter, besser zu werden. Der Film des genialen russischen Regisseurs, Sergei Eisenstein, erzählt die Leidens- und Heldengeschichte der Matrosen der russischen Schwarzmeerflotte im Zarenreich. Von der Hoffnung beseelt, in Russland einen flächendeckenden Brand der Revolution zu entfachen, brachten sie das Flagschiff in ihre Gewalt und verweigerten der Regierung den Gehorsam. Der Aufstand wurde gewaltsam unterdrückt. Die Matrosen schwer bestraft. Aber die Revolution kam, wenn auch etwas später als erwartet. Vor einigen Jahren kürte eine internationale Jury „Panzerkreuzer Potemkin“ zum besten Film aller Zeiten. Tatsächlich strömt er eine magische Kraft aus, die seine technische Unzulänglichkeit vergessen lässt. Der Zuschauer wird fasziniert, auch wenn er die im Film verherrlichte revolutionäre Gewalt nicht gerade für die einzuladende Hebamme der Geschichte hält. Das erklärt, warum „Panzerkreuzer Potemkin“ im Deutschland der zwanziger Jahre volle Säle nicht nur in proletarischen Wohnvierteln, sondern auch in Villensiedlungen sammelte. Obwohl die deutsche Zensur ihn verstümmelte. Sie fand, er verherrlichte die Revolution. Aber auch die sowjetische Zensur machte sich an das geniale Filmwerk ran. Den Zensoren in Moskau missfiel gerade das, was im Film faszinierte. Die Widerspiegelung der elementaren Kraft der angehenden russischen Revolution. Die Bonzen, die sich im postrevolutionären Russland breit machten, akzeptierten vorbehaltlos nur jene Revolutionen, die nach festem Plan abliefen und ihren Befehlen gehorchten. Die Besucher der Berlinale haben heute die Gelegenheit, den „Panzerkreuzer Potjemkin“ fast in seiner ursprünglichen Fassung zu sehen, die von Zensurscheren noch nicht kastriert wurde. Denn mit Unterstützung der deutschen Kulturstiftung wurde der Film restauriert. Nach dieser aufwendigen Arbeit jetzt zum ersten Mal aufgeführt, wurde er zu einer der Sensationen des diesjährigen Filmfestivals in der deutschen Hauptstadt. Dagegen ist die gegenwärtige russische Filmkunst auf der Berlinale schwächer als in vorigen Jahren vertreten. Die Fans können sich damit trösten, dass Eisensteins nur einmal in Hundert Jahren geboren werden. Aber auch dann brauchen sie wohl mehr als eine gut gerüstete Arbeitsstätte und spendable Sponsoren. Und zwar ein Erlebnis des gesellschaftlichen Durchbruchs, der erst zu einem großartigen Durchbruch der Kunstkonventionen führt und eine neue Kunst gebärt. 13.2.05
Am 27.Januar 1945 wurde das größte Todeslager des Dritten Reiches, Auschwitz, von sowjetischen Truppen befreit. Jedes Jahr wird an diesem Tag weltweit an die Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns erinnert. In Deutschland bekommt der Gedenktag diesmal eine besondere Note. Nicht nur weil es ein runder, der 60. Jahrestag ist. In der letzten Zeit gab es hier aufsehenerregende Provokationen. Sie machten die deutsche Öffentlichkeit darauf aufmerksam, dass der Nationalsozialismus mit all seinen Verbrechen nicht nur die Geschichte ist. Auch heute hat er seine Anhänger. Zwar gehört dazu nur ein verschwindend kleiner Teil der deutschen Bevölkerung. Aber wie einst ihre Vorbilder, verstehen die Ewiggestrigen, Ängste und Wissenslücken ihrer Landsleute auszubeuten. Darin liegt ihre Gefährlichkeit. Als russischer Journalist möchte man anerkennend hinzuzufügen, dass in deutschen Medien, aber auch in Stellungnahmen deutscher Staatsmänner und Politiker jetzt jene eine ehrende Erwähnung finden, die dem nationalsozialistischen Greuel unter Einsatz ihres Lebens ein Ende setzten. Nicht nur in Auschwitz. So war es nicht immer. Die in den Jahren des Kalten Krieges verbreitete Sichtweise auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges war sehr selektiv. Aus Opportunitätsgründen fand oft nur die Rolle des Westens im Kampf gegen Hitlerdeutschland gebührende Anerkennung. Der russische Beitrag wurde geflissentlich übergangen. Obwohl er entscheidend war. Jetzt ist es anders geworden. Jetzt wird der Tatsache mehr Rechnung getragen, dass es Russland war, das der nationalsozialistischen Terrormaschine entscheidende Schläge erteilte. Und deshalb nicht nur dem Holocaust ein Ende setzen konnte, sondern auch dem Regime, dessen Wahrzeichen für immer die Gaskammern von Auschwitz bleiben. Daran erinnert ein anderer 60. Jahrestag, der in wenigen Monaten folgt. Der 60. Jahrestag des Zusammenbruchs des Hitlerstaates. Die Russen wollen ihn als Fest der Versöhnung begehen. Vor allem die Beziehungen zwischen Russland und jenem Deutschland würdigen, das Alles tut, damit die abscheuliche Vergangenheit nicht zurückkehrt. Wo und in welcher Gestalt auch immer. ------------
Eine
weltbekannte Sammlung
silberner Kunstgegenstände, in
der ersten Nachkriegszeit aus
Deutschland nach Russland
verbracht, soll demnächst nach Deutschland zurückkehren. Bei
dieser Meldung berufen sich die Medien
auf Kulturstaatsministerin Christina Weiss. Sie äußerte
die Hoffnung, der Silbersammlung würden
andere Schätze der sogenannten Beutekunst
folgen. Es ist eine
Hoffnung, die wohl jeder hegt, der meint, alle
Kunstwerke gehören grundsätzlich in die Länder, wo sie vor dem
Zweiten Weltkrieg ihren Stammplatz hatten. Das
betrifft aber nicht nur deutsche, sondern
auch russische
Kunstschätze. Bekanntlich
sind russische Museen von Kunsträubern in SS-Uniformen geplündert worden.
Verständlicherweise möchte
Russland nicht nur
fremdes Kunst- und Kulturgut zurückgeben. Es will sein eigenes
zurückerhalten. Deutschland
ist juristisch und moralisch verpflichtet, sich
bei der Suche nach aus Russland entwendeten Kunstschätzen und
ihrer Rückgabe zu
verwenden. Darin besteht ein Konsensus. Die
Aufgabe ist nicht leicht zu lösen. In der letzten Phase des Krieges und
unmittelbar danach sind viele in Russland geraubte Kunstgegenstände
der Begehrlichkeit der Privatpersonen zum Opfer gefallen. Es
waren nicht nur und nicht vor allem Deutsche. Auch
hochgestellte Angehörige der
westlichen Besatzungsmächte in Deutschland haben viel unter die Nägel
gerissen. Später landeten die von ihnen illegitim angeeigneten
russischen Kunstwerke in streng gehüteten Privatsammlungen.
Zumeist in Übersee. Dort
machten die Kunsträuber schon
immer gute Geschäfte, Der
Irak, wo manche Museen deswegen
leer stehen, ist keine Ausnahme. Auch ein beträchtlicher Teil
der vor sechzig Jahren
von den SS- Beutejägern
in Deutschland gehorteten russischen Kunstschätze verschwand auf ähnliche
Weise. Wenn
es um ihre Rückgabe geht, hat Russland anscheinend viel Verständnis für die damit verbundenen Schwierigkeiten
der deutschen Seite. Es besteht nicht auf die peniblen Gegenleistungen für
die rückgeführten deutschen Kunstschätze. Die Liste dieser Heimkehrer
wird inzwischen immer länger. Darauf
stehen Bilder,
Kirchenfenster aus dem Mittelalter, Buchraritäten, Archive berühmter
Persönlichkeiten. Demnächst soll der Silberschatz der Familie von
Anhalt auch darauf. Allerdings
kommt Deutschland
russischen Anregungen entgegen.
So unterstütze es die Wiederherstellung
des aus Russland weggebrachten Bernsteinzimmers, das
irgendwo in Deutschland versteckt wurde oder verloren ging. Beim Abschluss der zweijährigen
deutsch-russischen Kulturbegegnungen in Sankt Petersburger
wurde hier die deutsche Hilfe bei der Restaurierung
einer kunst- und klangvollen Orgel
gewürdigt. Die gesamte Atmosphäre der deutsch-russischen Beziehungen erleichtert die Rückgabe der kriegsbedingt verbrachten Kunst- und Kulturgüter. Die beiden Seiten sind bemüht, dem Fortschritt immer wieder nachzuhelfen. Dabei wird die unangebrachte Politisierung des komplizierten Problems vermieden. Es bleibt auf der Agenda, darf aber nicht die Atmosphäre der deutsch-russischen Beziehungen trüben. 19.1.05
Sechzig Jahre danach 1. Als Hitlerdeutschland am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, war der Verfasser 17 Jahre alt. Als vor sechzig Jahren, am 8. Mai 1945, der oberste Kriegsherr Hitlers im sowjetisch besetzten Berlin die Kapitulationsurkunde unterschrieb, war der Verfasser 21. Also vier Jahre älter. Zwischen 17 und 21 war er Soldat. Die meiste Zeit an der Front. In der Ukraine, den westlichen Regionen Russlands, in Belorussland und im Baltikum. Aber nicht nur in diesen vier Jahren beeinflusste der Krieg sein Leben. Beim näheren Hingucken waren es auch die folgenden. Bis heute. Also, die ganzen sechzig Jahre danach. So war es nicht nur in seinem Leben, sondern auch in dem seiner Altersgenossen. Eigentlich im Leben jedes Russen, sogar wenn er viel später geboren wurde. Und den Zusammenhang zwischen seinem Leben und dem Krieg gar nicht sah. Auch in Deutschland ist es wohl nicht viel anders gewesen. Unser aller Geschick, ob das der Russen oder der Deutschen, hing und hängt mit dem Tag zusammen, an dem die deutschen Streitkräfte mit dem Ruf „Heil Hitler“ brav in Russland einmarschierten. Und mit dem Tag, als ihre Reste sich mit den Worten „Hitler kaputt“ auf den Lippen in die sowjetische Kriegsgefangenschaft begaben. Es ist sechzig Jahre her. Der kalte Krieg, der dem heißen folgte und von den Urhebern als seine Fortsetzung gedacht wurde, ist auch lange passe. Deutschland und Russland stehen sich jetzt als Freunde und Partner gegenüber. Dennoch, obwohl die beiden Kriege, der heiße und der kalte, der Vergangenheit anheim fielen, sind unsere Köpfe und Seelen noch nicht ganz frei von ihren Nachwirkungen. Das kann uns daran hindern, den Blick für die Gegenwart und die Zukunft zu schärfen. Jede gute Hausfrau geht, wenn der Winter vorbei ist, an den Frühlingsputz. Sie reinigt die Fenster, damit die Sonne in die Stube strahlt, wischt Staub, entrümpelt die Schränke. Was nicht gebraucht wird, kommt in den Müll. Eigentlich sollten wir uns alle ein Beispiel daran nehmen. Unser Denken und Fühlen entrümpeln. Viel ist in dieser Hinsicht bereits geschehen. Wenn man jetzt in den alten russischen und deutschen Zeitungen blättert, hat man den Eindruck, sie stammen vom Mond. Aber die Entrümpelung ist noch nicht ganz abgeschlossen. Der sechzigste Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa bietet eine gute Gelegenheit, das nachzuholen. Die Entrümpelung zu Ende zu führen. Gerade das hat wohl der russische Präsident gemeint, als er verkündete, das denkwürdige Datum soll unter dem Zeichen der Versöhnung begangen werden. Und es ist sicherlich nicht verkehrt, anzunehmen, dass der deutsche Bundeskanzler deshalb die Einladung, zu den Feierlichkeiten nach Russland zu kommen, angenommen hat. 2. Im ersten Beitrag ging es darum, dass wir alle, Russen und Deutsche, unsere Gehirne und Seelen zu entrümpeln haben. Mit Entrümpelung ist der Abschied von Denkschablonen und Sichtweisen gemeint, die der Krieg, der am 22. Juni 1941 mit dem Angriff Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion begonnen und am 8. Mai 1945 mit dem totalen Zusammenbruch des Angreiferstaates beendet , hinterlassen hat. Und der darauffolgende kalte Krieg auch. Heute möchte der Verfasser dieser Beitragsreihe etwas präzisieren. Und zwar dahingehend, dass die Entrümpelung, die er meint, nicht dem Vergessen gleichgesetzt werden darf. Den Krieg 1941-1945 und die folgenden dreißig Jahre des Kalten Krieges kann man nicht vergessen. Man braucht es auch nicht. Es geht um etwas anderes. Das Gewesene darf Entfaltung der neuen Beziehungen zwischen den Deutschen und den Russen nicht schmälern. Uns nicht daran hindern, weitere Fortschritte herbeizuführen. Auch in jener Sphäre, die erfahrungsgemäß sehr konservativ ist. In unserem Denken und Fühlen. Das ist ein Muss, wenn wir weiter wollen. In diesem Zusammenhang möchte der Verfasser eine Fernsehdokumentation erwähnen. Vor kurzer Zeit flimmerte sie über die deutschen Fernsehschirme. Es ging um das Schicksal der deutschen Flüchtlinge. Jener, die vor der anrückenden Roten Armee Ende 1944 – Anfang 1945 eine höllische Angst hatten. Sicherlich nicht unbegründet. Soviel der Verfasser beurteilen kann, entsprach das, was gezeigt wurde, der Realität. Das Fernsehteam fand vertrauenswürdige Zeitzeugen, aussagekräftige Filmaufnahmen. Es entstand eine tief beeindruckende Sendung. Den Verfasser dieser Beitragsreihe ließ sie ans furchtbare Leid der Deutschen am Ende des Krieges denken. Wie die deutschen Zuschauer sicherlich auch. Aber der Verfasser dachte auch daran, woran die deutschen Zuschauer vermutlich nicht dachten. Denn sie haben das nicht erlebt, was er erlebte. Das Kriegsleid in der Ukraine, in Belorussland und in den westlichen Gebieten des eigentlichen Russlands. Das Leid der unzähligen Menschen, die dort in Erdlöchern hausten. Menschen, die schwer hungerten und grausam froren. Nicht nur am Ende des Krieges, sondern auch einige Jahre danach. Weil ihre Lebensareale vom Krieg total zerstört wurden. Eigentlich ging es ihnen, obwohl sie Bürger des Siegerlandes waren, nicht besser als den Bürgern des besiegten Deutschlands. Sehr oft ging es ihnen schlimmer. Daran musste der Verfasser denken, nicht weil er Leid gegen Leid anrechnen wollte. Das Verfahren findet er dumm. Jedenfalls unzeitgemäß. Wir sind bereits soweit, dass wir uns dem fremden Leid öffnen müssten. Es wie das Leid der Landsleute empfinden. Wenn wir verhungernde und erfrierende Babys oder Greise sehen, müsste es uns egal sein, ob es Russen oder Deutsche waren. Wir müssten zuerst leidende Menschen sehen. In der Fernsehsendung dominierte aber eine andere Sicht. Da ging es ums Leid der deutschen Flüchtlinge und, wenn auch unterschwellig, um böse Russen als Verursacher des Leids. So könnte das Thema auch vor dreißig, vierzig oder fünfzig Jahren behandelt werden. Als es galt, die deutsche Bevölkerung gegen die Gefahr aus dem Osten zu sensibilisieren. Jetzt aber wäre eine andere Optik angebracht. Jetzt müsste man die Optik der Zeit, als man nur das eigene Leid im Auge hatte, ad acta legen. Dasselbe gilt übrigens auch für die Russen. Aber darauf kommt der Verfasser dieser Beitragsreihe im nächsten Beitrag. 3. Im vorigen Beitrag wurde eine deutsche Fernsehsendung erwähnt, die etwas einseitig das menschliche Leid am Ende des vor 60 Jahren zu Ende gegangenen Krieges thematisierte. Der Verfasser meinte, jetzt müsste man die Optik aus der Zeit, als man nur das eigene Leid im Auge hatte, ad acta legen. Jetzt wäre eine andere Optik angebracht. Kaum hatte er diese Zeilen geschrieben, als über die deutschen Bildschirme eine neue Sendung zum Thema flimmerte. Diesmal aber wurde nicht nur das deutsche Leid nach dem Einmarsch der Roten Armee aufs deutsche Gebiet, sondern auch das Leid der Russen unter deutscher Besatzung thematisiert. Auf den Bildschirm kamen brennende russische Dörfer und Galgen mit russischen Zivilisten. Nur für wenige Augenblicke, aber immerhin. Dann folgten deutsche Zeugenaussagen. Sie bewirkten beim Verfasser ein heftiges beklemmendes Gefühl. Insbesondere wenn es um Vergewaltigungen ging. Es half nicht, sich in Erinnerung zu rufen, dass eine mehrjährige erzwungene Enthaltsamkeit junge Männer, egal welcher Herkunft, mitunter zu wilden Tieren macht. Und wenn man sich sagt, die russischen Soldaten hatten, im Unterschied zu den Amerikanern und Briten, keine seidenen Strümpfe und Schokolade im Gepäck, um Mädchen zu imponieren, kommt man über die bedrückenden Tatsachen auch nicht hinweg. Die Sendung schockte. Schamgefühl und Entsetzen überwältigten den russischen Zuschauer, der übrigens vor sechzig Jahren Frontsoldat gewesen ist. Er erinnert sich aber gut daran, dass sich seine Kameraden ganz anders benahmen. Nur einer verging sich an einer Frau. Die Ordonanz des Korpskommandeurs. Er wurde sofort zum Tode verurteilt. Die Exekution fand in Anwesenheit von Delegierten aller Brigaden des Panzerkorps statt. Der Verfasser musste auch hin. Es war grausam, den jungen Mann, den man kannte, vor den Kugeln des Exekutionskommandos niedergeschossen zu sehen. Aber wir billigten das Urteil. Allerdings sind wir nicht in Deutschland, sondern im Baltikum eingesetzt worden. Mag sein, dass es auf deutschem Boden anders gewesen wäre. Nach allem, was in den besetzten Gebieten Russlands vorgefallen ist, dursteten viele Kameraden nach Rache, ohne zwischen Schuldigen und Unschuldigen klar unterscheiden zu können. Jetzt aber einige Worte zu einem anderen, soeben gesendeten Film des deutschen Fernsehens. Es war ein Spielfilm. Zu den Hauptpersonen der Handlung gehörten eine deutsche Adlige und ein Oberstleutnant des russischen militärischen Geheimdienstes. Die junge Adlige hatte im Nachkriegsostdeutschland schwer zu leiden. Sie wäre verloren, hätte der verliebte russische Geheimdienstoffizier sie nicht mehrmals gerettet. Immer wieder tauchte er auf, um dem Mädchen aus der Patsche zu helfen. Wie deux ex machina in antiken Tragödien. Man könnte sagen: endlich kommt in einer deutschen Filmproduktion ein russischer Besatzungsoffizier, dazu ein Geheimdienstler vor, der ganz anders ist. Das heißt nicht stur und nicht korrupt. Zwar gab es solche gewiss auch. Wie in jeder Armee. Aber es gab auch viele kluge, ehrliche und einfühlsame. Die aus Deutschland als Freunde der Deutschen zurückkamen. Tatsächlich bremsten sie wie der Filmheld oft übereifrige deutsche Genossen. Denn sie wussten über die in Ostdeutschland von Idealisten oder auch Karrieristen mit SED- Parteiabzeichen eifrig nachgeahmte sowjetische Lebensweise besser als diese Bescheid. Und wollten keine Kopie in Deutschland. Aber auch diese Offiziere der sowjetischen Besatzungsbehörde, erst recht die Geheimdienstler, hatten in der Regel etwas Anderes zu tun, als sich mit adligen deutschen Mädchen einzulassen. Bei aller Anerkennung der guten Absicht der Filmemacher muss man deshalb sagen, dass die kitschige Liebesgeschichte die Realität verniedlichte. Und das muss nicht sein. Denn diese Realität ist an sich sehr aufschlussreich. Ihre vorurteilslose, aber auch ernste Aufarbeitung kann die weitere Annäherung beider Länder befördern. Abschließend möchte der Verfasser bemerken, dass der sechzigste Jahrestag der Wiederherstellung des Friedens in Europa ein guter Anlass ist, ein realitätsgerechtes Bild der Kriegs- und Nachkriegsjahre entstehen zu lassen. Ein Bild, das dem schweren Schicksal der Kriegsgeneration der Russen und der Deutschen gerecht wird. Diese Generation bestand nicht aus lauter Verbrechern und nicht aus lauter Helden, sondern vorwiegend aus normalen Menschen, die in extreme Situationen gerieten. Auf beiden Seiten haben sie das Recht auf mehr Verständnis, als ihnen mitunter entgegengebracht wird. Das gehört auch zur Versöhnung der ehemaligen Kriegsgegner, die vollendet werden muss. Und noch etwas. Nur sieben Prozent der Russen vom Jahrgang des Verfassers haben den Krieg überlebt. Den Krieg, den sie nicht wollten. 4. Vor sechzig Jahren lagen die Wunden, die der Krieg geschlagen hat, noch ganz offen. Danach verheilten sie. Aber sehr langsam. In diesem Zusammenhang erinnert sich der Verfasser an eine unerfreuliche Geschichte in seinem Berufsleben. Sie passierte am 30. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa. Also vor ca. dreißig Jahren. Als Mitarbeiter der deutschsprachigen Redaktion des Moskauer Rundfunks, des Vorläufers der Stimme Russlands, schrieb er damals eine Sendung, in der nicht nur wie davor üblich an das Leid der Russen im Krieg 1941- 1945 hingewiesen wurde, sondern auch an das Leid der deutschen Zivilisten. Es stand in der Sendung etwas über das Mitgefühl, das man jenen deutschen Müttern entgegen bringen muss, die wie die russischen Mütter ihre Söhne und Männer im Krieg verloren haben. Und darüber, dass das erlebte Leid die Deutschen und die Russen nicht entzweien, sondern zusammenbringen müsse. Heute mutet es wie eine Banalität an. Damals aber, das heißt vor 30 Jahren, fanden manche Kollegen, dass der Verfasser die Russen beleidigt, indem er ihr Kriegsleid quasi auf eine Stufe mit dem Kriegsleid der Deutschen stellte. Das wäre sehr unpatriotisch, lautete die Anklage. Zwar versuchte der Verfasser, die Wellen damit zu glätten, dass er auf den mehrmals deklarierten Grundsatz der russischen Deutschlandpolitik hinwies, wonach die in Russland begangenen Gräueltaten aufs Konto Hitlers und seiner Paladine kommen. Nicht aufs Konto des deutschen Volkes. Aber die Rechtfertigungsversuche wurden abgewiesen. Es wurde die fristlose Kündigung ausgesprochen, was damals in der Sowjetunion einem Berufsverbot sehr nahe kam. Aber einige Tage später brachten die Zeitungen einen Appell der russischen Führung an die Regierungen und Völker der Welt. In diesem Appell standen zum Teil nicht nur dieselben Gedanken, sondern zum Teil auch dieselben Worte wie in dem kriminalisierten Beitrag. Vielleicht erklärte es sich damit, dass der oberste Chef des Verfassers, der an dem Appell mitarbeitete, die kriminalisierte Sendung als die Entlassungsursache vorgelegt bekommen hatte. Jedenfalls wurde der Verfasser sofort rehabilitiert. Er wurde sogar prämiert. An sich verdient die Episode gar nicht erwähnt zu werden. Und wenn doch, dann nur im Kontext dieser Sendereihe. Damit man an einem Beispiel verdeutlicht, wie schwierig der Weg zur Versöhnung war, den die Russen und die Deutschen zurücklegten. Deshalb gilt es, das auf diesem Weg bereits Erreichte zu hüten und zu pflegen. Hoffentlich trägt dazu auch der 60. Jahrestag der Wiederherstellung des Friedens in Europa bei. Ein Datum, das in Russland, laut Präsident Putin, unter dem Zeichen der Vollendung der Versöhnung begangen werden soll. Ein Anliegen, das im Ausland große Anerkennung findet. Auch unter den Staatsmännern, die zu dem Datum nach Moskau kommen wollen. Darunter Bundeskanzler Schröder, der seine Ankunft angekündigt und die Einladung aus Moskau als eine Ehre bezeichnet hat. 5. Die Wiederherstellung des Friedens in Europa vor sechzig Jahren war das Ereignis in unserem Leben. Ich meine das Leben meiner Kameraden und mein eigenes. Das Leben der russischen Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Bald aber mussten wir wahrnehmen, dass der Sieg über Hitlerdeutschland unsere Hoffnungen nicht ganz erfüllte. Denn wir erhofften mehr als den Sieg über den Urheber des Zweiten Weltkrieges. Wir erhofften den ewigen Frieden und mehr Gerechtigkeit in der Welt als das Hauptergebnis des Sieges. Und das ließ auf sich warten. Wir, meine Kameraden und ich, mussten sowieso wieder in den Krieg. Nach Asien. In die Mandschurei, die von Japanern besetzte chinesische Provinz. Hier stand ein neuer Gegner unserem Panzerkorps gegenüber. Im Unterschied zu Hitlerdeutschland hat er die russische Erde nicht verwüstet. Zwar erinnerte der sowjetische Diktator Stalin, als er die Rote Armee gegen Japan warf, daran , dass die Japaner vor vierzig Jahren die russische Pazifikflotte vernichtet hatten. Aber für uns, Zwanzigjährige, war es lange her. Ergraute Geschichte. Trotzdem akzeptierten wir den Feldzug gegen Japan. Schließlich war es ein Verbündeter Hitlerdeutschlands. Und hat unseren Verbündeten, die Vereinigten Staaten, heimtückisch angegriffen. Damals waren wir aber den Amerikanern sehr gut gesinnt. Zwar griffen sie in den Kampf gegen Hitlerdeutschland erst ein, als die Wehrmacht von der Roten Armee bereits stark geschwächt war. Trotzdem waren wir ihnen für ihren Beitrag zum Sieg dankbar. Für die Waffen, die sie uns lieferten. Und auch für das Schweinefleisch in Büchsen, das so gut schmeckte. Aber nach den amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroschima und Nagasaki, die militärisch sinnlos waren, begann das Bild der USA als eines nicht nur reichen, sondern auch segensreichen Landes zu bröckeln. Wenn die Segen mittels Atombomben gebracht werden sollen, erscheinen sie nicht mehr attraktiv. Uns aber leuchtete es allmählich ein, dass das eigentliche Ziel der Atombombenabwürfe weniger Japan, viel mehr unser eigenes Heimatland war. Der spektakuläre Einsatz der neuen Waffe war ein an Russland gerichteter Denkzettel. Er sollte uns vor Augen führen, was uns erwartet, wenn sich Russland den Amerikanern nicht unterwirft. Dasselbe wie Hiroshima und Nagasaki, die ausgelöscht wurden. Es gab aber im Lande, das soeben Hitler bezwungen hatte, kaum viele, die sich einer anderen fremden Herrschaft unterwerfen wollten, sei es auch eine, die ein sehr schmackhaftes Schweineschmorfleisch in Büchsen verschickt. So zeichnete sich die Gefahr ab, um den Preis des Sieges über Hitlerdeutschland betrogen zu werden. Um den Preis, zu dem der ewige Frieden und mehr Gerechtigkeit in der Welt gehören sollten. Dabei war die sich angekündigte Konfrontation mit den einstigen Verbündeten im Krieg gegen Hitler das Letzte, was wir wollten. Unterwegs vom äußersten Westen des Kontinents, wo wir die Kapitulation der Wehrmacht erlebten, bis zum Fernen Osten, zum neuen Kriegschauplatz, sahen wir ein Land, das vor allem eins brauchte. Frieden. Im Westen nach der deutschen Besetzung war es verbrannte Erde. Weiter im Osten auch vom Krieg ausgesaugt. Auf den Feldern ausgemergelte Frauen, die wie Pferde Geräte ziehen mussten. Bilder, die man nie vergisst, auch wenn man lange danach lebt. Auch sechzig Jahre danach.
------- Herbert
Wehner in Moskau Der
in der Überschrift erwähnte Politiker hat die Nachkriegsgeschichte
Deutschlands wesentlich mitgeprägt. Und zwar als SPD-
Bundestagsfraktionsvorsitzender und
später als SPD- Vizevorsitzender. Mit scharfem Verstand, starkem
Machtinstinkt und Sinn für Intrige ausgerüstet, schaltete und waltete
er jahrelang in der größten Volkspartei der Bundesrepublik.
Von einigen verehrt, von vielen gehasst und von allen gefürchtet. Zur
deutschen Sozialdemokratie stieß Herbert Wehner erst nach dem Zweiten
Weltkrieg. Davor gehörte er zur KPD, wo er
verantwortungsvolle Posten bekleidete. Das
war ein Teil seines Lebens, der mehr oder weniger offen lag. Anders
seine Tätigkeit in
den Jahren der Emigration, in den dreißiger Jahren. Diese absolvierte
er vorwiegend in der Sowjetunion als Funktionär der Kommunistischen
Internationale, der von Lenin 1919 gegründeten
und von Stalin 1943
aufgelösten Weltvereinigung der Kommunistischen Parteien. Von
der Kommintern und ihren deutschen Funktionären hatte Herbert Wehner
keine hohe Meinung. Vermutlich weil er sich ungerecht behandelt sah.
Sein Tätigkeit in der
Kommintern- Zentrale stillte seinen Ehrgeiz nicht. Er wollte mehr Macht. Diesem
Abschnitt des Lebens von Wehner gelten mehrjährige Forschungen
des deutschen Historikers Reinhard Müller. Im seinem unlängst
erschienenen neuen Buch* bilanziert er ihre Ergebnisse und veröffentlicht
viele Dokumente aus
russischen und deutschen Archiven. Sein Fazit lautet, Wehner habe sich
verhängnisvoll in den Netzen des sowjetischen Geheimdienstes
verheddert. Der
Forscher meint, dass der spätere SPD- Funktionär in der Zeit des großen
Terrors in der Sowjetunion einen
Beitrag zur Säuberung der
deutschen kommunistischen Emigration
von linken, trotzkistisch
- und rechten, sozial-demokratisch
„verseuchten“ Genossen leistete. Da diese zumeist auf Verdacht
aufgegriffen und auf Grund von durch Folter erzwungenen
Selbstbeschuldigungen liquidiert wurden, musste man sich dabei nicht zu
sehr anstrengen. Es reichte nur ein leiser Zweifel an der Loyalität
eines Unliebsamen, ein Hinweis auf seinen, nicht ganz koscheren Umgang
in Deutschland oder in der Emigration oder auf eine unbedachte Äußerung
vor vielen Jahren, um ihn auf
den Archipel Gulag oder in einen Hinrichtungskeller zu bringen. Reinhard
Müller berichtet sachlich und trocken. Auch, wenn er die Frage streift,
wie trotz Wehners Vergangenheit sein steiler Aufstieg in der SPD möglich
war. Mussten doch die Parteioberen
wissen, mit wem sie es zu tun hatten. Und wenn ihnen die Moral
des Strebers ziemlich schnuppe
war, dann blieben noch die mit seiner Erpressbarkeit zusammenhängenden
Bedenken. Nur sehr naive Menschen konnten annehmen, der sowjetische
Geheimdienst hätte
keine Akte über die Kontakte mit Wehner geführt. Trotz alledem genoss
er Vertrauen. Vielleicht
kam ihm dabei die in seiner SPD- Aufstiegszeit immer härter werdende
Abwehr der kommunistischen Gefahr in der Bundesrepublik und in Europa
zugute. Wehner konnte dabei
sehr hilfreich sein. Schließlich war auch das, was er in Moskau im Verborgenen tat, nichts anderes als Antikommunismus. Dadurch begünstigt, dass Stalin überzeugte Kommunisten, ob Russen, Deutsche oder sonst welcher Herkunft, schon aus dem Grunde hasste, dass sie sich ihm womöglich in den Weg stellen könnten. Die in sein Reich geratenen deutschen Genossen wurden deshalb reihenweise umgebracht. Als Antikommunist mit KP- Parteibuch war Wehner keine große Ausnahme. Auch manch ein anderer KP- Politiker, der nicht so sehr an die Welterneuerung, sondern eher an die unheilbare Verderbtheit des Menschengeschlechtes glaubte, erlag der Bewusstseinsspaltung. Wenn man einen weiten Bogen zu unserer Zeit spannt, kommen sogar Michail Gorbatschow und Boris Jelzin in den Sinn. Der Erstere unterschrieb das Verbot der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, der Andere zwang ihn dazu. Obwohl der Eine wie der Andere zum höchsten Gremium derselben Partei, zu ihrem Politbüro, gehörten. Wer
sich in einer Welt ohne Kommunisten gemütlicher fühlt, muss
ihnen dankbar sein,
da sie viel zur Gemütlichkeit beigetragen haben. Leider
ist diese wieder in
Gefahr geraten. Zum
Beispiel durch den militanten
Islamismus. Und man darf wohl nicht damit rechnen, dass sich die
Islamisten in ihrem Verein ähnlich aufführen wie Stalin und seine
Getreuen in der Kommintern. Dann nämlich wäre die Gefahr auch bald aus
der Welt. *
Reinhard Müller. Herbert Wehner - Moskau 1937. 570 S. Hamburger
Edition. Hamburg. 2004
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