Die recht ungewöhnliche, von der Berliner Öffentlichkeit aber freudig angenommene und stark besuchte Veranstaltung galt einem Jubiläum. Vor 50 Jahren wurde auf dem von den Bomben der amerikanischen und englischen Luftwaffe stark mitgenommenen Prachtboulevard Unter den Linden das russische Botschaftsgebäude wiedererrichtet. Inmitten des Ruinenfeldes, dort, wo einst das Palais der Vertretung des russischen Zarenreichs stand, ließ Moskau ein für damalige Verhältnisse modernes Bauwerk hinsetzen, dreimal so groß wie die Residenz davor. Es war der in Stein und Beton verkörperte Glaube daran, dass Deutschland seine Rolle in Europa und in der Welt zurückgewinnt und sich für seinen östlichen Nachbarn wieder zu einem wichtigen Partner aufschwingt. Oder, um einen damals oft wiederholten Spruch zu zitieren, dass "die Hitler kommen und gehen, der deutsche Staat und das deutsche Volk aber bleiben bestehen".
Erst recht bewahrte sich diese Einstellung zur deutschen Zukunft, als sich Deutschland wiedervereinigen konnte. Berlin wurde erneut zur Hauptstadt des vereinigten Staates. Die Dimensionen der imposanten Residenz Unter den Linden mit ihren großzügigen Arbeits- und Empfangsräumen entsprachen nunmehr der wachsenden Bedeutung der russisch-deutschen Beziehungen, ihrer
zunehmenden Vielfältigkeit und Tiefe.
Aber nicht nur als Mittelpunkt der russischen diplomatischen Tätigkeit in Deutschland macht das Gebäude Unter den Linden von sich reden. Wie in anderen russischen Vertretungen im Ausland, wird auch hier jetzt ein neuer Stil der Offenheit gepflegt. Das war es, was auch den Sommerball in der russischen Botschaft prägte und von in den Berlin tätigen ausländischen Diplomaten, Berliner Politikern und Geschäftsleuten, aber auch Künstlern und Wissenschaftlern wahrgenommen werden konnte. Den Gästen wurde ein buntes Unterhaltungsprogramm dargeboten, gemischt aus russischer Folklore, deutscher Popmusik und lateinamerikanischen Rhythmen
In seiner kurzen Begrüßungsansprache hob der Botschafter Sergei Krylow hervor, dass Deutschland und Russland dabei sind, ihre Zusammenarbeit auf allen Gebieten quantitativ und qualitativ weiter zu entfalten. Dies ist ein objektiver Prozess, da beide Ländern aufeinander angewiesen sind und sich gegenseitig ergänzen. Die Anwesenden klatschten Beifall.
29.6.02
EIN APPENDIX ZUM
OBENSTEHENDEN BERICHT
Die belesene
ergänzte
den obenstehenden Bericht über den Sommerball
in der russischen Botschaft zu Berlin mit einigen Auszügen aus
Berliner Presseberichten. Sie betreffen
einen Empfang in der Botschaft Unter den Linden vor siebzig Jahren.
Die alten Presseauszüge kommentiert
, der der Botschaft die
Ehre seines Besuches erwies.
Also fangen
wir mit dem Vergleich zwischen den sowjetischen und postsowjetischen Zuständen
im Russischen Palais Unter den Linden an.
Ein
Augenzeugenbericht aus dem Jahr 1932: “Im geschlossenen Riesenportal der
Botschaft war eine kleine Tür, durch die wurde man eingelassen. Ein
Botschaftsangestellter öffnete sie ganz schnell und schloss sie sofort
wieder, wenn man drin war. Aha, dachte man, hier stehen die Türen nicht
sperrangelweit offen... In der Stille der Garderobe,
mit dem Ablegen des Frackmantels beschäftigt, klang es einem im
Ohre: Du, Genosse...Ein wenig missmutig steckte man die Garderobenmarke
ein und stieg die teppichbelegte breite Treppe hinauf zu den oberen
Empfangsräumen. Eine vergrößerte Photografie, Lenin bekanntes Bild mit
Mützen, die Hände in den Taschen, hing an der Wand...“
Iwan
Matrjoschkin, Esquire, dazu: Jetzt ist es ganz anders. Viel besser. Keine
kleine Tür im Riesenportal, sondern ein großzügiger Eingang. Ein
Botschaftsangestellter steht zwar unweit, scheinbar mit sich selbst beschäftigt,
aber das muss wohl sein in dieser gefahrvollen Zeit. (Bei den Amerikanern
erlebt man etwas ganz anderes. Da fühlt man sich von vornherein als ein
Krimineller). Auch die Anrede mit Genossen hört man bei den Russen nicht
mehr. Schließlich ist man nicht im Willy-Brandt-Haus. Man redet sich mit
Herr oder -auf die russische Art- mit Vor- und Vatersnamen an. So wurde
ich, in der Welt der Prominenz kein Unbekannter, respektvoll mit Iwan
Iwanowitsch angeredet... Ein Leninbild ist übrigens
hier weit und breit nicht mehr in Sicht. Dafür aber sieht man
vornehme antike Darstellungen: Athene, Aphrodite, Cupido. Kulturvoll!
Noch
ein Augenzeugenbericht aus dem Jahre 1932: „Um den langen Tisch im großen
Raum drängten sich Hunderte von Gästen,
ausländische Diplomaten jeder Kategorie und jeden Landes. Geschäftsleute,
die am russische Handel
interessiert waren, Professoren aller Fakultäten, außer den
theologischen, die halbe deutsche Generalität. Eng aneinandergepresst drängten
sich die illustren Herren und Damen um
den Tisch. Unter heftigem Gebrauch der Ellenbogen und über die Köpfe
der vor ihnen stehenden hinweg versuchten sie zu den großen Kristallschüsseln
voll Kaviar, die auf Eisblöcken standen, zu den langen und flachen
Schalen mit Forellen in Aspik, zum geräucherten Stör und zu den Kannen
mit Wodka...zu gelangen.
Iwan
Matrjoschkin, Esquire: „ Auch in dieser Hinsicht
ist es viel besser geworden als 1932. Es gab bei dem oben
beschriebenen Empfang nicht nur EINEN
langen Tisch, sondern zwei Dutzend davon. Nicht
nur in den großen Empfangssälen, sondern auch im
Botschaftsgarten, wo durchsichtige Zelte aufgestellt waren. Man brauchte
seine Ellenbogen gar nicht zu bemühen, um zu schönen Sachen zu gelangen.
Auch sah man deutsche Professoren ALLER Fakultäten, EINSCHLIESSLICH der
theologischen, aber auch- 1932 undenkbar-
russische orthodoxe Priester im vollen Ornat. Die deutsche
Generalität erkannte man zwar nicht, vielleicht war aber auch sie
anwesend, nur in Zivil. Wie die russische, vermutlich.
Allerdings
muss auch Kritik angebracht werden, damit die Gastgeber sich noch bessern. 1. Kaviar gab man nur an einem Tisch und nicht etwa
in Kristallschüsseln auf Eisblöcken, sondern in einer gemeinen Glasschüssel.
Das wäre noch zu verkraften, obwohl ich als Esquire dies als
Fauxpas empfand. Schlimmer war, dass der vorhandene Kaviar im Nu ausging.
Wie anders, häuften die vornehmen Gäste doch ganze Berge von Kaviar auf
ihre Teller, als hätten sie diesen noch nie gesehen und wüssten nicht,
dass man als welterfahrener Mensch höchstens einen Esslöffel davon
vertilgt. Sonst kriegt man eventuell einen Eiweißschock.
Noch
viel schlimmer war, dass auf den
Tischen, die ich eingehend inspizierte, nicht nur keine Kannen mit Wodka,
sondern keine Wodkaflaschen zu entdecken waren. Nur Sekt, den ich wie der
Teufel das Weihwasser meide.
Der
knapp vorhandene oder schnell ausgetrunkene Wodka war ein Fauxpas im
Quadrat. Allerdings macht Bier es auch, wenn die Menge stimmt. Jedenfalls
bin ich mit Mühe und Not die große Treppe heruntergestolpert, nahm mich
aber beim Ausgang zusammen und erst als ich das prunkvolle Gebäude verließ,
sang ich laut und melodisch das herrliche russische Gaunerlied
über einen Vagabunden, der am Baikalsee seine Mutter trifft.
Anschließend überwältigte mich die Nostalgie, ich schluchzte laut, die
Passanten Unter den Linden waren tief beeindruckt. Ja, wir Russen sind gefühlsvoll,
nicht so furztrocken wie...na ja, Sie wissen schon!
1.7.02
NEUJAHRSBALL WIE BEIM ZAREN
Bekanntlich
feiern die Russen (nicht nur in Deutschland) gerne. Silvester sogar
zweimal im Jahr. Nach dem europäischen und dem alten russischen Kalender.
Deswegen gab es am 13.01. im Berliner Nobelhotel Interconti ein russischer
Ball. Einfallsreich gestaltet, eine Replik der Hofbälle in St. Petersburg
zur Zeit von Katarina. Kein Kind von Traurigkeit erschien die Große samt
Hofstaat höchstpersönlich
im Interkonti, bereit, sich mit den Gästen ablichten zu lassen. Auf dem
Programm stand eine Show mit Stars aus Russland. Eine Festtafel, reich an
Kaviar und anderen leckeren Sachen, wurde auch angeboten. Das ganze für
schlappe 390 Euro pro Person.
Ein
Wohltätigkeitsball in der besten Tradition der Petersburger Highsociety
von anno dazumal. Der Erlös kommt
jungen russischen Künstlern zugute. Dafür sorgen
Irina von Bismarck, Prinz Eduard von Anhalt
(aus dem Haus, dem auch die Zarin Katarina entstammte), Baron von
Falz Fein, ein in der Schweiz lebender bekannter Mäzen, der Dirigent
Justus Franz, der Starfriseur Udo Walz und andere. Es gibt also noch
spendable Russenfreunde in Deutschland.
Matrjoschka
zollt ihnen die höchste Anerkennung,
will aber keine Almosen. Besser der Hungertod!
RUSSISCHE KAKERLAKENRENNEN IN BERLIN
Wir, die Holzpuppen, bringen auf unserer site
grundsätzlich keine Werbung. Auch keine versteckte. Darum nennen wir
den Ort in Berlin nicht, wo die russischen Kakerlakenrennen stattfinden.
Nur so viel: in der Nähe von den berühmten Hackischen Höfen ist die
urstige Gaststätte zu finden.
Keine Angst, liebe Menschen. Die Kakerlakeninvasion
droht nicht. Die an Rennen beteiligten Tierchen werden gehütet,
gepflegt und sind wie Achal-Tekiner versichert. Also, sehr hoch!
Kein Wunder: sie sind goldwert. Alles gut gewachsene
Exemplare, etwa fünf Mal so groß wie eine gemeine Schabe, vor allem
aber gut dressiert. Kaum schießt die Startpistole geschossen, rennen
sie so schnell, wie sie nur können, ans Ziel. In einem verglasten
Kasten hat jeder Kakerlak seine Bahn und auch einen individuellen
Erholungsraum, wo Speisen und Getränke bereitstehen.
Jedes Tier hat einen schönen Namen. Zum Beispiel,
heißt eine Schabendame "Slawjanka", also die Slawin. Und ein
Herr- "Bogatyrj", also ein Recke.
Jeder Rennkakerlake hat außerdem eine ausführliche
Lebensgeschichte: wann und wo geboren, wo und wie gerannt, welche
Charaktereigenschaften (kampfgeil, ehrlich, ausdauernd, verfressen
u.s.w.) Nur in einem renommierten Stall haben Rennpferde eine
Biographie, die sich damit vergleichen lässt.
Allerdings sollten, nach meinem Matrjoschkas
Geschmack, die Biographen weniger euphorisch sein. Wenn sie schreiben,
die Kakerlakdame Sonne verachtet die Männer im Team, glaube ich Ihnen
aufs Wort. Doch wenn sie behaupten, der Kakerlakjunge Mond könnte bis
zehn zählen, glaube ich es nicht ganz. Vielleicht bis drei, bis fünf,
aber bis zehn?
Die aktuelle Information über die Teilnehmer des
jeweiligen Rennens erhält das Publikum umsonst. Es kann die Teilnehmer
vor jedem Rennen in Augenschein nehmen und ihre Chancen selbst
abschätzen. Die zahlreichen Fans schlagen die Möglichkeit nicht aus.
Schließlich, geht es um das liebe Geld, da auch Einsätze möglich
sind. Alles wie in Windsor. Nur the mum fehlt. Vielleicht aber besucht
die muntere Alte noch Kakerlakrennen. Jedenfalls ist sie herzlich
willkommen.
Vorläufig müssen die Veranstalter sich mit einigen
MdB und anderen Vertretern der Creme der Berliner Gesellschaft zufrieden
geben. Der illusterste unter den Stammgästen sieht mit seinem
roten Bart, kleinen blutunterlaufenen Augen und kräftiger Körperstatur
selbst wie eine Schabe aus. Rennen kann er aber nicht. Also, haben die
Kakerlaken ihm Einiges voraus.
Matrjoschka unterhielt sich mit einem sehr sympathischen russischen Croupier, der die Einsätze
entgegennimmt. Er
erklärte, das Kakerlakrennen hat in Russland Tradition. Früher
ersetzte es dem einfachen Volk das viel weniger preiswerte Pferderennen.
"Die Veranstaltung ist unser Beitrag zum Kulturleben der deutschen
Hauptstadt, -sagte der junge Russe. – Wir fühlen uns in der Pflicht,
die russische Kultur den Deutschen zugänglich zu machen."
5.12.00
Probleme
Am ersten
Tag des USA- Waffenganges gegen den Irak fanden in vielen Städten
Deutschlands mächtige Protestaufmärsche statt.
Sie waren
viel zahlreicher, als alle Experten
voraussagten. Vermutlich weil die Experten
nicht erkannt haben, welche Wandlung im
Bewusstsein der Deutschen eingetreten ist. Sie haben nicht
erkannt, dass ein Mythos der letzten sechs Jahrzehnte gestorben
ist. Der Mythos vom gütigen, wohlwollenden, zutiefst
demokratischen Staat
in Übersee. Dem Freund, Helfer und Beschützer.
Früher
lehnten sich gegen den Mythos nur marginale Gruppen auf,
angesiedelt weit am
linken Flügel des deutschen politischen Spektrums. In der Atmosphäre
des kalten Krieges wurden sie als Handlanger des Kremls
diffamiert, des Antiamerikanismus bezichtigt und
nicht ernstgenommen. Die gegenwärtigen
Protestmärsche in Deutschland
signalisieren die Wende. Und
weil sie spontan erfolgen und hinter ihnen keine Organisation steht,
ist nicht anzunehmen, es sei ein vorübergehendes Phänomen.
Vielmehr wurzeln sie tief in den Erfahrungen der Menschen in
Deutschland. In ihrer Erinnerung an den Luftterror der Amerikaner
und Briten während des Zweiten Weltkrieges, in ihrem
Unmut über die unehrliche, einseitige Schuldzuweisung am
gewesenen Krieg und in vielem, was noch
geschah, darunter Hiroshima und Nagasaki, das Abschlachten
der Zivilbevölkerung in Vietnam und
anderes, was unter der
Zuckerglasur rührender Geschichten über die Rosinenbomber im
Bewusstsein der Deutschen schlummerte. Der martialische Alleingang
der USA, ihre Missachtung des internationalen Rechtes und der
Vereinten Nationen kristallisierten die Vorbehalte. Mit einem Ruck ordneten sich
die Reminiszenzen
und Empfindungen einer Nation zu
einem Ganzen. Und es geschah mit einer Wucht, die tatsächlich
schwer voraussagbar war. Jedenfalls wenn man den Deutschen
geistige Beweglichkeit nicht zubilligt, die sie haben.
Bezeichnenderweise
machten junge Mensche das Gros der Kriegsgegner, die spontan auf
die Strasse der deutschen Städte gingen. Es waren Menschen, denen
es die Gnade der späten Geburt erleichterte,
über die Vorgänge in der Welt unbeeinflusst von den
Denkschablonen des Kalten Kriegs zu urteilen. An den
mitgetragenen, schnell
gebastelten Transparenten konnte
man erkennen, dass
sie allen möglichen
politischen Richtungen angehörten, zumeist aber überhaupt
keiner. Sie wollen keinen Krieg und keine Lügen über die Motive
des Aggressors. Sie wollen eine Welt, wo die Macht des Rechts und
nicht das Recht des Mächtigeren regiert.
Mit
Antiamerikanismus hat es nichts zu tun. Dass sie an einem Hass
auf Amerika nicht
kränkeln, zeigt selbst ihr Outfit. Sie tragen Jeans und trinken
Coca-Cola, tanzen unter den Klängen des Jazz und sind
ausgesprochen nett zu den Amerikanern, wenn diese nicht gerade
George W. Bush heißen. Den
Antiamerikanismus pflegen in
Deutschland ganz andere Jugendliche.
Die mit kahlgeschorenen Köpfen. Aber gerade sie sah man an
dem Tag auf den Strassen nicht. Vermutlich, weil die ungezügelte Gewalt ihnen imponiert.
Dagegen
traf man unter den Demonstranten mehrere
Berliner mit russischem Hintergrund. Das wunderte
nicht. Zwar äußern sich die
Deutschen und die Russen politisch
nicht immer auf die gleiche Art und Weise. Protestmärsche wie in
Deutschland lassen in Russland noch auf sich warten. Vielleicht
kommen sie überhaupt nicht. Aber den Kollegen in der deutschen
Presse, die darauf hinweisen, ist zu empfehlen, auch auf etwas
anderes aufmerksam zu werden.
Darauf, wie sich die Ergebnisse der Meinungsumfragen in
Deutschland und Russland gleichen. Nur zwei Prozent der russischen
Bevölkerung akzeptieren die amerikanische Aggression. In
Deutschland ist der Anteil der Bevölkerung zwar etwas größer,
aber auch hier ist es eine kleine Minderheit.
Vielleicht
hat das etwas mit historischen Erfahrungen beider Völker zu tun.
Es sind schwere Erfahrungen. Aber sie sind lehrreich. Und sie sind
vererbbar. Sie sitzen tief in der Mentalität sowohl der Russen
als auch der Deutschen von heute. Deswegen sind die einen und die
anderen gegen den Krieg, der jetzt die Welt unsicher macht.
21.3.03
Die Heinrich Böll Stiftung veranstaltete in Berlin
ein Hearing zum Thema "Das russischsprachige Berlin heute -
Perspektiven für ein intellektuelles und künstlerisches
Potential".
Was ist das russischsprachige Berlin heute? Die größte Gruppe sind die Russlanddeutschen, deren Zahl sich in Berlin
auf etwa 130. 000 beläuft. Etwa 16.000 sind andere Einwanderer aus den
Nachfolgestaaten der Sowjetunion: Juden, Russen, Weißrussen, Ukrainer,
Georgier, Armenier und andere. Nach ethnischer Herkunft sind diese
Menschen unterschiedlich. Bei den meisten aber zählt viel mehr die
gemeinsame Verwurzelung in der russischen Sprache und russischen Kultur.
Ein anderes prägendes Merkmal ist die
durchschnittlich hohe Bildung der Einwanderer, die den hohen
Bildungsstand der Bevölkerung der ehemaligen Sowjetunion widerspiegelt.
In keiner anderen Bevölkerungsschicht Berlins gibt es so viele Menschen
mit Hochschulbildung: Ingenieure, Ärzte, Lehrer, Informatiker,
Biologen. Noch stärker sind Künstlerberufe vertreten: zum Teil
namhafte Dichter, Schauspieler, Musiker, Maler.
Vor allem um die letzteren ging es beim Hearing der
Heinrich Böll Stiftung. Die Fragestellung lautete: Wird das kreative
Potential dieser Menschen für Bereicherung der kulturellen Aktivitäten
in Berlin eingesetzt?
Die Antwort darauf klang nicht besonders fröhlich.
Zwar haben die russischsprachigen Berliner in den letzten Jahren einiges
getan, um ihre Kenntnisse, Fähigkeiten und Traditionen zu bewahren. Es
erscheinen zahlreiche Printmedien in russischer Sprache, es gibt
Schulen, Theater, Musikensembles, Klubs russischsprachiger Berliner.
Zahlreich sind russische Gaststätten, wo viele Ur- Berliner und Gäste
der deutschen Hauptstadt einkehren. Dennoch ist die Ausstrahlung der
russischsprachigen Gemeinde auf das Kulturleben Berlins kaum
wahrzunehmen. Die Einwanderer schmoren zumeist im eigenen Saft.
In diesem Zusammenhang wurden Vergleiche zur
russischsprachigen Gemeinde der deutschen Hauptstadt in den frühen
zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gezogen. Es ist zwar
unbestritten, dass damals in Berlin weitaus mehr große Dichter und
Künstler aus Russland lebten. Unbestritten aber ist auch etwas anderes.
Ihre Kreativität war in Berlin gefragt. Und das half Berlin von damals,
in innovativer Kunst und Literatur mit Paris, Rom und London
gleichzuziehen.
Warum die russischsprachigen Berliner heute im
Schatten leben, darüber gingen die Meinungen auseinander. Die einen
Vortragenden wiesen auf die sehr knappen finanziellen Ressourcen der
Einwanderer hin, die zwar keine Not leiden, andererseits aber kaum
Sponsoren aus dem eigenen oder dem deutschen Milieu finden. Andere
Veranstaltungsteilnehmer stellten mentale Barrieren zwischen den
russischsprachigen Einwanderern und ihren deutschen Berufskollegen in
den Vordergrund. Auf der Einwandererseite sind es die mangelhafte
Verbundenheit mit der deutschen Sprache und Kultur. In der Berliner
Gesellschaft - historisch gewachsene Vorurteile, die mitunter durch
unobjektive Medienberichterstattung verfestigt werden.
Sicherlich werden die Defizite mit der Zeit
überwunden. Darauf lässt zum Beispiel die jüngste Sitzung des
Deutschen Bundestages zum zehnjährigen Bestehen des einheitlichen
deutschen Staates hoffen. Hier wurde - und zwar von Vertretern der
Regierungskoalition - zum Ausdruck gebracht, dass sich die
Stigmatisierung der früheren DDR-Kader für das vereinigte Deutschland
als unproduktiv erwies. Menschen, die auf vielen Gebieten, besonders
aber bei der Neugestaltung der Beziehungen zu Osteuropa Nützliches
leisten könnten, wurden aus dem tätigen Leben hinausgedrängt. Eine
Parallele zum russischsprachigen Berlin und zum russischsprachigen
Deutschland (etwa drei Millionen Menschen) drängt sich auf. Bleibt zu
hoffen, dass die hier schlummernden Potentiale früh genug erkannt und
eingesetzt werden. Jedenfalls früher, als sie verkümmern.
P.r.29.9.2000