SCHICKSALHAFTES
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Hier sind Beiträge gehortet, die als Wegweiser in die russische Zukunft (oder auch nicht!) gelten können. Unter anderem zu: 2.Sibirien 5.Steuert die Menschheit der Selbstvernichtung zu? 7.Zwischen Erleuchtung und Katastrophe
1.SCHLACHT VOR MOSKAU Im deutsch-russischen Militärmuseum Berlin, Karlshorst, fand am 22. November 2001 eine Veranstaltung zum sechzigsten Jahrestag der Schlacht vor Moskau statt.Die Ausstellung gilt einer der grö ßten Schlachten des hoffentlich allerletzten Krieges zwischen Deutschland und Russland. Die Schlacht vor Moskau im Herbst-Winter 1941 begrub den Traum der deutschen Angreifer vom Blitzsieg. Sie gab den in den ersten Monaten nach dem deutschen Angriff vom 22. Juni 1941 schwer geschlagenen Russen den Mumm, den Angreifer abzuwehren.Der
Schlacht vor Moskau folgten die
Stalingrader Schlacht vom Winter 1942- 1943 und dann die Frühlingsschlacht
um Berlin 1945. Und sie alle
wurden von den Russen gewonnen. Historiker
stritten viel darüber, was den Russen vor Moskau und in den
späteren Schicksalsschlachten den Sieg gebracht hat. Die einen sagten, es sei das
kommunistische Sendungsbewusstsein gewesen. Schwer zu glauben. Um die
Zeit war es mit dem kommunistischen Sendungsbewusstsein schon nicht
sehr weit her. Durch die Armut in Russland, die anstelle der
versprochenen blühenden Landschaften einkehrte, und durch den vom
Sowjetstaat entfesselten Terror ging das kommunistische
Sendungsbewusstsein in der sowjetischen Bevölkerung stark zurück. Vielleicht
waren die Verlierer, die Deutschen, sogar mehr indoktriniert als die
Sieger, die Russen. Sie glaubten nämlich daran, dass sie die
westliche Zivilisation vor den wilden Horden aus der russischen Steppe
retteten. Sie waren von der eigenen
haushohen Überlegenheit zutiefst überzeugt, besonders nach ihren
vorherigen glänzenden Siegen im Westen. Warum
also siegten die Russen? Der Verfasser wagt zu sagen, sie siegten, weil sie siegen mussten. Weil Russland sonst verloren wäre. Russland war aber das Heim für hundert Völker: Russen, Ukrainer, Usbeken, Juden et cetera, et cetera. Wie bereits zugegeben, war es ein armes Heim und auch ein Heim, wo Willkür herrschte. Trotzdem ein Heim eben. Ein Eigenheim. Es durfte nicht verloren gehen. Das spürten die meisten von uns, die Soldaten des Krieges, wie immer sie zur Sowjetmacht standen. Dem Verfasser kommt es vor, als ob die von ihm im Deutsch-Russischen Militärmuseum in Berlin-Karlshorst angeguckten Ausstellungsfotos seine These bekräftigen. Er glaubt, in vielen Gesichtern der sowjetischen Soldaten, seiner ehemaligen Kameraden, eine Entschlossenheit zu sehen, die er vor sechzig Jahren auch miterlebt hat. Nicht zur Schau getragen, war diese Entschlossenheit in dem Glauben tief verwurzelt, Russland wird leben. Was auch kommen mag. Und wie ungemütlich Russland auch sein mag. Es wird leben, weil sein Sterben unvorstellbar war. Übrigens empfanden wir es als ureigene Sache, unser Heim besser einzurichten. Und nicht als eine Sache der anderen, die als Hüter der Zivilisation in unser Land kamen und unsere Städte und Dörfer in Schutt und Asche legten. So steckte das deutsche Heer wenige Kilometer vor Moskau fest, machte dann kehrt und lief weit zurück, den Weg mit Leichen seiner Angehörigen und zerstörten Panzer säumend. Daran zu erinnern, hei ßt nicht, mit einem Sieg zu protzen, der vor 60 Jahren stattfand. Und erst recht entspringt das Erinnern daran nicht dem Verlangen, dem ehemaligen Kriegsfeind, der –gottlob- zu einem Friedensfreund geworden ist, nachträglich eins auswischen zu wollen. Es ist nur als Prophylaxe gedacht. Notwendig, weil ein Mensch ohne Erinnerung leicht verführbar ist. Und immer wieder in dieselbe Falle tapst.SOWJETISCHE
KRIEGSGEFANGENE – OPFER, DIE LEER AUSGEGANGEN SIND. VORLÄUFIG. HOFFT
DER BERLINER RECHTSANWALT STEFAN TASCHJAN.
Er setzte die Klage auf, die
jetzt ans Berliner Verwaltungsgericht gegangen ist. Kläger sind die in
Armenien lebenden Ischchan Melkonjan und Pargew Sacharjan, die Beklagte
ist Deutschland, vertreten durch das Finanzministerium und die Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, die aus Mitteln der deutschen
Industrie die ehemaligen Zwangsarbeiter des Hitlerstaates entschädigt.
Jetzt geht es um den Versuch, durch
einen Musterfall eine
schreiende Ungerechtigkeit gegenüber einer besonderen Kategorie der
Zwangsarbeiter aus der Welt zu schaffen. Und zwar denjenigen, die bisher
leer ausgingen. Tatsächlich
ist das Schicksal der
ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen äußerst tragisch. Im Krieg sind
5,7 Millionen Rotarmisten in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, davon
kamen 3,3 Millionen ums Leben. Das war eine Folge der bis in Detail
ausgearbeiteten und kaltblütig in die Tat umgesetzten
Vernichtungsstrategie des nationalsozialistischen Regimes, die das
russische Volk dezimieren sollte. Aber auch die überlebenden
sowjetischen Kriegsgefangenen mussten Schlimmes erleiden. Nach ihrer
Befreiung und Rückkehr in die Heimat wurden sie von der stalinistischen Führung
der Sowjetunion als Verräter behandelt und vielfältigen
Diskriminierungen ausgesetzt. Nach der qualvollen „Filtrierung“ kamen
sie entweder in „Strafbataillone“ oder in die „Arbeitsarmee“,
wurden also praktisch zu Lager und Zwangsarbeit verdammt, die sie aus
Deutschland schon gut kannten. Und trotzdem erhielten sie für das Erlittene keine Entschädigung. Auch nachdem andere Zwangsarbeiter des Dritten Reiches diese bekamen. Total herausgefallen aus dem ganzen Entschädigungsvorgang, da sie im Unterschied zu jüdischen und anderen Opfern des Nationalsozialismus keine Lobby hatten. Ihre Stimme fiel unter den Tisch.
Sie werden
als ganz normale Kriegsgefangene
geführt, die sich unter dem Schutz des Internationalen Roten Kreuzes
befanden, so wie die amerikanischen, englischen, französischen oder
polnischen mit einer Todesrate von fünf Prozent. In der Tat aber zählt
diese Kategorie der Opfer des Nationalsozialismus
nach den Juden die meisten Ermordeten. Die Zuständigen in
Deutschland wollten aber ihr Schicksal nicht wahrnehmen. Die hohen
Verhandlungsführer fürchteten am
meisten eine juristische Aufarbeitung des Problems, denn kein unabhängiges
Gericht wird die offensichtliche Sachlage ohne weiteres missachten können.
Deshalb ist das Auftreten des
Berliner Rechtsanwalts Stefan Taschjan
wichtig, der sich dafür engagieren will, dass
den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen, alt
und krank geworden, Gerechtigkeit widerfährt. Dankenswerterweise gibt es in Deutschland Institutionen und Menschen, die
kein Gerichtsurteil abwarten, um zu helfen. Kirchliche und andere
Stiftungen in Marburg, Köln und einigen anderen Städten
fanden Geld, um wenigstens jenen ehemaligen Kriegsgefangenen, die
in ihrer Gegend Zwangsarbeit leisteten, ein wenig Unterstützung zukommen
zu lassen. Bekannt wurde die Initiative von Frau
Liphardt, Tochter eines
deutschen Lagerkommendanten im jetzigen Polen. Sie machte zwei ehemalige
Gefangene aus diesem Lager ausfindig und zahlt ihnen
aus ihren ziemlich bescheidenen Mitteln eine monatliche Beihilfe. 2.12.02 Es lockt zusehends ehrgeizige Macher, die mit dem Kreml nicht viel am Hut haben. Nach einem im Runet verbreiteten Gerücht will sich der berühmt- berüchtigte Dollarmilliardär Boris Beresowski der bevorstehenden Gouverneurswahl in Irkutsk stellen( siehe einen Bericht auf der zornigen Matrjoschka). Die Wahl eines anderen strebsamen Milliardärs, Roman Abramowitsch, in Tschukotka steht so gut wie fest (siehe den nächsten Bericht auf diesem Link). Nicht zu vergessen General a.D. Alexander Lebed, Gouverneur der in Russland größten Region Krasnojarsk, dem Beresowski seiner Zeit zu einer fulminanten politischen Karriere verhalf. Ist ein Bund der Geldsäcke und des Militärs im Kommen? Auf einem der ressourcenreichsten und zukunftsträchtigsten Flecken der Erde, viel größer als z.B. die EU? Haben wir es mit dem Embryo einer neuen Weltmacht zwischen dem europäischen Russland und China zu tun? Erinnert sei an mehrere derartige Träume der Sibirjaken in der Vergangenheit... 19.12.2000
Das größte russische Wunder... Rentierzucht war seit jeher die Beschäftigung der russischen Eskimos. Es gibt mehrere Dutzend Stämme, die den russischen, am Eismeer angrenzenden Norden bevölkern. Eigentlich ist das Wort "bevölkern" in Bezug auf "Eskimo" eher eine Übertreibung. Denn die Arktis bevölkern Russen. Die Stämme, hier vor der russischen Eroberung im XVII-XIX Jahrh. zu Hause, sind dezimiert. Manche zählen noch Tausende, andere – Hunderte, die dritten - weniger als hundert sind die Angehörigen. Vielleicht wäre ihr Schicksal weniger dramatisch, hätte das riesige Territorium (64 % der gesamten Fläche Russlands) Bodenschätze. Hier werden nämlich 90 % des russischen Erdgases, etwa 75 % des Erdöls, 36 % des Holzes gewonnen. 9 % der Bevölkerung der RF liefert hier mehr als ein Viertel des Nationaleinkommens. Die Keten, Korjaken, Mansi, Nanajer und wie sie sonst heißen haben an der Ausbeute keinen Anteil. Sie züchten Rentiere und betreiben Fischfang. Und das ist nicht lukrativ. Insbesondere da die natürliche Umwelt in ihren Siedlungsgebieten zerstört wird. Zu viel Erdöl sickert unterwegs zum Westen in die Erde, zu viel Natur geht beim Straßenbau u.s.w. kaputt. So geht es den russischen Eskimos immer schlechter. Zwar verspricht der Kreml zu helfen, einiges Geld wird dafür auch bereitgestellt, aber es kommt nur zu einem kleinen Teil an. Das meiste fließt in dunkle Kanäle. Allerdings müssen auch die hiesigen Russen darben. Die etwas höheren Löhne, die sie hier kriegen, gehen fürs Notwendigste drauf. Die Arktis ist bekanntlich ungastlich. Frost bis minus 60 neun Monate im Jahr. Kaum Obst und Gemüse in der Verpflegung. Und Skorbut als Folge. Nur einmal in vier- fünf Jahren werden die Arktisbewohner verwöhnt. Wenn der Termin einer nächsten Wahl anrückt. So wie jetzt ein neuer Gouverneur der Region Tschukotka gewählt werden soll, der größten und an Naturschätzen reichsten Region der russischen Arktis. Die Tschuktschen, die der Region den Namen gaben, machen hier allerdings nur ein Zehntel der ca.100. 000 Bewohner. Die Tschuktschen. Die Rentierzüchter. Vor 30 Jahren kam in Moskau eine Unendlichserie von Witzen über Tschuktschen auf. Etwa so. Ein Tschuktsche wird nach Moskau geschickt. Zum Parteitag der sowjetischen Kommunisten. Zurückgekehrt, muss er seiner Sippe Bericht erstatten. Er erzählt vom großen Saal im Kreml, von der Bühne, mit riesiger Aufschrift geschmückt. Sie lautet: "Alles für den Menschen!". "Na und? drängt die Sippe. "Ich sah den Menschen, für den alles gegeben werden soll, -sagt der Tschuktsche zufrieden. Er am großen Tisch. In der Mitte. An der Brust- viele Orden. Und die dicken Augenbrauen. Die sollten sie sehen." Die dicken Augenbrauen waren das Markenzeichen des damaligen KPdSU-Generalsekretärs Leonid Breshnew. Warum gerade die harmlosen Tschuktschen die Rolle der sowjetischen Schildbürger übernehmen mussten, ist unergründlich. Vielleicht weil es für ein russisches Ohr so witzig klingt: Tschuk- tschen, Tschuk-tschen. Jetzt werden in Moskau neue Witze über Tschuktschen erzählt. Denn zum Gouverneur der Region will einer der reichsten Neureichen Russlands werden. Roman Abramowitsch. Der Herr über die zwei einträglichsten Konzerne Russlands- Sibneftj (Erdöl) und "Russkij aluminij" (Aluminium). Seine Wahl ist so gut wie sicher. Den einzigen Rivalen, den jetzigen Gouverneur Alexander Nasarow, hat er einfach mit einem hoch dotierten Posten in seinem Industriereich abgefunden. Was sucht Abramowitsch im Lande der unschuldigen Kinder der Natur? Der Ruf des Blutes kann es wohl nicht sein. Auf die Frage nach dem Motiv antwortete er kurz und bündig: ich möchte es. Schluss. Basta. Er weiß, wenn er was möchte, dann kriegt er es auch. U.a. weil er im Unterschied zu seinen Kameraden Beresowski und Gussinski ausgezeichnete Beziehungen mit dem Kreml pflegt. Auch nach dem Wechsel an der Spitze. Was ist das größte russische Wunder? lautet eine Preisfrage in Russland. "Ein jüdischer Rentierzüchter!" lautet die Antwort. Nach Utro.ru. 17.12.2000
DIE RUSSISCHE SEELE - GIBT ES SIE? Wenn es sie doch gibt, dann hat sie folgende Merkmale: Die Russen mit "Seele" sind nicht stolz darauf, Russen zu sein. Sie sind gnadenlos zu sich. Sie zerfleischen sich gern. Sie können es, weil das russische Volk ein großes Volk ist. Es braucht keine Selbstberäucherung. Die "russische Seele" ist in allen ihren Manifestationen alles andere als kleinkariert. Vielmehr ist sie groß sowohl in der Hilflosigkeit, wenn es darum geht, das Leben bequem einzurichten, als auch in der Zerstörungswut, wenn sie diese überfällt. Und wenn es an den Aufbau des Zerstörten geht, ist sie auch großartig. Wer glaubt, man könne an ihrer "Seele" herumdoktern, versteht nichts von den Russen. Die Schwächen wegoperieren, die Stärken entwickeln, das Schlimme ausrotten, das Gute lassen. Daran scheiterten alle Reformen. Alle Experimente der selbsternannten Erzieher der Russen. Wie sie auch hießen: Karl Marx oder Jeffrey Sachs. Und werden auch weiter scheitern, da die "russische Seele" eine Ganzheit ist. Entweder man akzeptiert sie, wie sie ist. Oder man lässt die Finger davon. Über die "russische Seele" von oben herab zu urteilen, heißt, seinen Minderwertigkeitskomplex ausleben zu wollen. Oder sich wahnsinnigerweise an den Platz des lieben Gottes zu setzen, der wohl allein weiß, was Gut und was Böse in dieser Welt ist, was sie voranbringt und was sie zurückwirft. Die Russen mit "der Seele" brachten im vorigen Jahrhundert Wunder hervor. Sie zerstörten die härtesten Regimes, die Russland ewig unterdrücken wollten - die zaristische Selbstherrschaft und die Sowjetmacht. Sie warfen zwei Reiche des Bösen auf die Müllhalde der Geschichte. Und taten dabei der Freiheit in der ganzen Welt gut. Andererseits ließen sie diese Reiche entstehen. Sie sammelten Hunderte Völker um sich. Weniger mit der Waffe in der Hand, mehr durch die Anziehungskraft der "russischen Seele". Voll von wilden Träumen und unsinnigem Pathos. Und mit Keimen jener Kreativität, die die Welt verändert. Die "Seele" ist das, was die Russen davor rettete, sich der Staatsmacht, wie sie auch war, hinzugeben. Es wird viel darüber geschrieben, dass in Russland die Zivilgesellschaft fehle. Sie fehlt aber in Russland nicht. Sie ist da, nur anders als in manch einem anderen Land. Sie ist nicht in den Gesetzesbüchern, sondern eben in der "russischen Seele" verankert, die sich vom Staat nie versklaven ließ. Auch wenn die Russen so taten als ob. Man sagt, es entstehe in der Welt eine "new Economy", dadurch gekennzeichnet, dass die Maschine immer weniger, die intellektuelle und die emotionelle Energie des Menschen immer mehr wiegen. Wenn dem so ist, dann ist Russland in dieser Welt nicht auf dem 67. oder 72. Platz, sondern ganz vorn. Trotz der UNO-Statistiken. Und dank der Seele, die wohl doch existiert und ohne Gänsefüßchen geschrieben werden darf. 23.1.01. Elite.ru.
Wer uns den Traum bringt... Was ist ein Traum? Ein Hirngespinst, Illusion und oder auch- das Modewort- dream. Jedenfalls etwas Gegenstandsloses, Nebelhaftes, Diffuses. Russland kannte viele Träumer. Zum Beispiel den aus dem Roman von Gontscharow. Er hieß Ilja Iljitsch Oblomow. Die Verkörperung harmlosen Träumens, mit dem man sein Leben auf dem Sofa verbringt und niemandem wehtut Es gab aber auch einen anderen Träumer, auch Iljitsch. Mit Nachnamen Lenin. Vor just achtzig Jahren, vielleicht an genau so einem Oktobertag, saß er in seinem großen Dienstzimmer im Kreml und sprach mit dem weltbekannten englischen Schriftsteller Herbert Wells über seine grandiosen Glücksvisionen. Wells, der selbst gern träumte, begriff schnell, dass ihm der Kremlträumer in punkto Fantasie weit überlegen war. Als er später dieses historische Gespräch in einem Buch beschrieb, hielt er mit seiner Begeisterung nicht hinter dem Berg, konnte sich aber ein skeptisches Grinsen auch nicht verkneifen. Kein Wunder, der Bürgerkrieg wütete noch, es gab keinen Strom, die Züge standen still, ein anderer hätte sich schon längst an den Hosenträgern erhängt, dem Mann im Kreml machte das alles nichts aus. Der war schon ganz in der lichten Zukunft. Der traurige Gedanke, dass Russland seine katastrophale Lage diesem seinem Gesprächspartner verdankte, kam dem englischen Schriftsteller übrigens nicht in den Sinn. Lenins Traum war zwar in Russland geboren worden, aber tatkräftige Anhänger fand er zuerst im Westen. Genauer gesagt in Deutschland. Noch genauer im Generalstab seiner Majestät des deutschen Kaisers. Dort begriff man, dass in Russland, das damals gegen Deutschland einen Krieg führte, die kühnen Träume gute Chancen hatten. Die Generäle rüsteten Iljitsch mit viel Geld aus, das ihm half, Russland als Kriegsgegner zu erledigen. Und dann begannen siebzig Jahre, in denen, wie es in einem sowjetischen Lied hieß, der Traum zur Realität werden sollte. Einer Realität, die die Russen total erschöpfte. Die Lust nach kühnen Träumen scheint ihnen danach abhanden gekommen zu sein. Davon profitiert unser gegenwärtiger natschalnik, der gesunden Pragmatismus predigt. Manchmal allerdings scheint es, dass ein träumerischer Hauch seinen glasklaren Blick verklärt. Aber das liegt wahrscheinlich an meinem schlechten Fernseher. I.I., P.r
DIE GLÜCKSELIGEN... Wodurch unterscheiden sich die Russen von anderen Völkern? In einem Witz heißt es , der Unterschied zum Franzosen besteht beispielsweise darin, dass dieser "fast blau rasiert und ein wenig angetrunken, der Russe dagegen ein wenig rasiert und total blau ist..." Im letzten Jahrzehnt wurde Russland in mehrere internationale soziologische Untersuchungen einbezogen, die ergaben, dass die Russen zu den "glückseligsten Völkern" zählen. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuter sind die Russen die fünftglückseligste Nation der Welt. Noch glückseliger sind nur die Einwohner Kenias, Nordkoreas und "einiger wenig bekannter Staaten". Das bedeutet keinesfalls, dass die Russen es besser als die anderen haben. Nein, sie haben einfach gelernt, sich an Dingen zu erfreuen, die andere eher traurig machen. Nehmen wir die Deutschen. Auf der Liste der Glückseligsten stehen sie nur an 24. Stelle (die lebensfrohen Franzosen kamen auf Platz 15). Was genau den Russen dieses schöne Gefühl der Harmonie mit sich und der Welt gibt, blieb allerdings ein Rätsel, denn sie sind glückselig im allgemeinen, wenn es konkret wird aber nicht. Im Familienleben z.B. empfinden sich die Russen als die unglücklichsten. Die Österreicher und die Amerikaner sind diesbezüglich sechsmal glücklicher. Zwei Drittel der Russen haben keine Befriedigung beim Sex. Ein Fünftel der russischen Bevölkerung hat überhaupt keinen Spaß daran. Einen anderen wichtigen Faktor unseres Lebens, die Arbeit, betrachten die Russen so wie ehedem: "Die Arbeit ist kein Wolf, sie läuft uns nicht in den Wald davon". Die Arbeit macht nur 2 Prozent der Russen glücklich. Warum, in Gottes Namen, sind dann die Russen so glückselig?! Einfach so...Weil sie leben! MK. 6.01.2001
RUSSLANDS WEG WILLE
UND VORSTELLUNG Der
12. Juni ist im russischen Kalender ein Staatsfest. Der Tag der Unabhängigkeit. Er
geht auf den 12.Juni 1990 zurück, als das russische Parlament die Unabhängigkeit
Russlands verkündete. Die Unabhängigkeit von wem? Von der Sowjetunion,
die damals noch existierte. Von
der sowjetischen Führung, durch den Präsidenten Michail Gorbatschow
repräsentiert. Dem
wurde durch die Unabhängigkeitsdeklaration Russlands der Stuhl
unter dem Hintern weggezogen. Auch weil die anderen Republiken der Sowjetunion
dem russischen Beispiel folgten. Damit
zogen die Regionalfürsten
die Entscheidungsgewalt über die Zukunft ihrer Länder an sich.
Gorbatschow und seine Mannen wurden zu Generälen ohne Armee. Das
Weitere war nur eine Frage der Zeit. Den
Stein brachte Boris Jelzin ins Rollen. Seine Impulsivität und
Unbedenklichkeit, typisch für einen Russen, der etwas zu oft besoffen
ist, erwiesen sich als bergeversetzende Eigenschaft. Vielleicht werden
die Historiker seine Person
als die erste in einer langen Reihe von Staatsmännern einschätzen,
deren Stärke darin bestand,
wenig darüber nachzudenken, was sie
tun. Und sich
nicht von Konventionen leiten lassen. Am
12.Juni 2003 war Jelzin dort, wo der Tag der Unabhängigkeit
pompös gefeiert wurde. Auf dem Roten Platz. Vor dem Kreml. Als
Ehrengast. Als Statist. Im
Zentrum des bunten Geschehens stand der Mann, der ihn beerbt hat.
Wladimir Wladimirowitsch Putin. Er strahlte
Zuversicht aus. Wieder sprach er darüber, dass Russland nur als
mächtiger Staat existieren kann, existieren wird. Wieder ermahnte
er, die Reihen fest zu schließen. Wieder schimmerte durch seine
Worte der Ruf: Ein Volk, ein Reich... Das dritte Glied in der Gleichung
kommt wohl von selbst dazu. Oder auch nicht. Jedenfalls
sprechen kann er. Seine Vorgänger konnten es nicht. Bis auf den
Sowjetstaatsgründer Lenin. Der hatte aber Schwierigkeiten mit dem „
r“. Und der wollte keine Dominanz Russlands im Bundesstaat
Sowjetunion. So
kam es auch. Entgegen der gängigen
Vorstellung im Westen,
waren die Russen in der
Sowjetunion nicht privilegiert, obwohl Russland die Hälfte des
Territoriums und der Bevölkerung des als
Bundesstaat getarnten Imperiums
ausmachte. Sie mussten aber unter der imperialen Bürde am
meisten Blut schwitzen. Jetzt, da sie das Joch
abgeworfen haben, werden ihnen Adlerflügel
wachsen. Das ist der Tenor der Betrachtungen, die sich an die
Unabhängigkeitsverkündung Russlands knüpften und knüpfen. Die Flügel sind noch in Ansätzen. Aber, wie die Feierlichkeiten in Sankt Petersburg und jetzt in Moskau suggerieren, der Wille und die Vorstellung, hoch zu steigen, sind da. Mindestens im Kreml. Das ist schon etwas. 12.6.03 DER
FLUG DES DOPPELADLERS Bekanntlich
ist der Militärdienst in Russland kein Zuckerlecken. Für die Soldaten
nicht, da sie schlecht versorgt, dafür aber oft schikaniert werden.
Für die Offiziere auch nicht. Auch sie sind unterversorgt, ihre
Familien leiden unter Wohnungsnot. Die Waffenarsenale der russischen
Streitkräfte schreien nach Erneuerung und Auffüllung. Woran
es aber nicht mangelt,
ist die Symbolik, die das Selbstwertgefühl des Soldaten hebt.
Heute ist sie wieder bereichert worden..
Die Staatsduma billigte den Gesetzentwurf
über die neue Flagge der Streitkräfte. Diese bleibt zwar rot,
aber auf dem Hintergrund erscheinen Darstellungen,
die das Erbe der Revolution von 1917, das Rot, relativieren. Auf
die rechte Seite kommt ein
goldener Doppeladler mit nach oben ausgebreiteten Schwingen, einer Krone
über jedem Kopf und einer weiteren großen Krone oben. Auf der Brust
des Adlers, der das Zepter und den Reichsapfel in den Krallen hält, ist
in Silber ein Reiter in blauem Mantel dargestellt, der mit seiner
silbernen Lanze den schwarzen Drachen trifft. Alles Symbole, die den Schöpfern
der Roten Armee verhasst waren.
In
den Ecken jeder Flaggenseite sind goldene fünfeckige Sterne angebracht,
der Flaggenrand ist mit einem goldenen Flechtornament geschmückt. Auf
der Rückseite der Flagge wird ebenfalls ein Doppeladler, aber schon mit
gesenkten Schwingen und mit einem Schwert und einem Lorbeerkranz in den
Krallen zu sehen sein. Auf der Brust des Adlers ist ebenfalls ein Reiter
angebracht, der den Drachen mit der Lanze trifft. Der obere Teil der Rückseite
der Bahn zeigt in goldenen Lettern das Wort „Vaterland", der
untere Teil die Wörter „Pflicht. Ehre". Es
war der Verteidigungsminister Sergej Iwanow, der die Veränderungen am
Aussehen der Flagge vorschlug. Der Präsident Putin unterstützte sie.
Die Symbole wurden den
Flaggen der Armee und der
Kriegsmarine des Zarenreiches abgeguckt. 6.6.03
EINE UNPASSENDE MORD-STORY Gemordet wird in Moskau leider oft. Diesmal aber kam der Mord sehr ungelegen. Denn der Ermordete ist ein in Sankt- Petersburg tätiger Unterweltchef. Mit einem ausdrucksvollen Tarnnahmen: das Grab! Das Ereignis erinnert daran, dass es in der herrlichen Stadt, die jetzt ihren 300. Geburtstag feiert, nicht nur die Eremitage gibt. Aber lassen wir Gazeta.ru die Story erzählen.
ПУТИН
ГОНИТ
ЧЕРНУХУ
Das
erste Wort in diesem Drei-Worte-Titel
versteht ein
Matrjoschka-Leser bestimmt, auch wenn er kein Wort Russisch spricht. Mit
dem Rest des Satzes ist es wohl schwieriger. Der Ausdruck
„gonit tschernuchu“ lässt sich in etwa mit den deutschen
Redewendungen „sieht schwarz“ oder „malt den Teufel an die Wand“
vergleichen. Doch der russische Ausdruck hat einen tiefen Hintergrund. Lange Jahre wurde er in
Russland als Knüppel gegen
alle gebraucht, die nicht nur die Fanfaren bliesen, wenn sie die Lage im
eigenen Land in den Medien einzuschätzen versuchten. Mit den Worten
wurden ihnen böse Absichten untergeschoben. Als Nestverschmutzer sollten
die Verdammten bloßgestellt werden. In
seinem jüngsten Bericht vor der Staatsduma über die Lage der Nation
hat sich Präsident Putin als so ein Netzbeschmutzer empfohlen. Anstatt
darüber in Jubel auszubrechen, dass Russland jetzt
mehr Devisen in seiner Kasse hat als je in seiner Geschichte (Erdölpreise
auf dem Weltmarkt!) schob er die Feststellung in den Mittelpunkt,
Russlands Wirtschaft bleibe schwach und das sei eine sehr große Gefahr
in einer globalisierten Welt, in der die Schwachen gnadenlos gefressen
werden. Auch in manch anderer Hinsicht ließ er es an Deutlichkeit nicht
fehlen. Das Einkommen jedes vierten Russen liegt unter dem
Existenzminimum (ohnehin sehr niedrig veranschlagt), das Heer der
Staatsdiener ist stark unterbezahlt, was ihm keine andere Wahl lässt,
als zu stehlen (in diesem Punkt blieb Putin allerdings zurückhaltend)
und überhaupt gebe es viel Unerfreuliches rundherum. Diese
Feststellungen machte er mit düsterer Miene, blickte angewidert in den
Saal, wo die Volksvertreter saßen, und reagierte auf ihren dünnen
Applaus so, als müsse er eine Kröte schlucken. Verglichen
mit dieser „tschernucha“ fielen zwei andere Schlüsselteile seiner
Ausführungen weniger überzeugend aus. Zum einen waren es die vagen
Behauptungen, in den drei Jahren seiner Präsidentschaft seien die bis
dahin unlösbar scheinenden Probleme gelöst worden. Vor allem
sei Russland jetzt steuerbar geworden, was es früher nicht war,
weil die Provinzfürsten, unter seinem Vorgänger zu frech geworden,
taten, was sie wollten. Zum anderen strengte er sich an, den Zuhörern
zu suggerieren, trotz allem, was die Nation belastet, dürfe sie den
Glauben an ihre große Zukunft nicht verlieren. Wenn Russland es
schafft, in den nächsten zehn Jahren doppelt soviel
zu produzieren wie jetzt, dann ist ihm ein würdiger Platz in der
Elite der Völkergemeinschaft doch noch möglich. Allerdings
sagte Putin wenig Konkretes
darüber, wie dieses Kunststück mit der Verdoppelung fertig gebracht
werden soll. Rita.ru,
17.5.03
Anmerkung: Wegen dieses ganz und gar unkonventionellen Auftritts des russischen Präsidenten ratlos, riefen die Holzpuppen einen der besten, wenn nicht den besten Kenner der Vorgänge im Kreml, Iwan Matrjoschkin, Esquire, zu Rate. „ Wahlkampf!!!- sagte der gewichtig. Mit diesem Auftritt empfiehlt sich mein Freund W.W.P. den russischen Wählern als großer Staatsmann, vergleichbar mit jenem Briten, der Winston Churchill hieß und angesichts der bevorstehenden Invasion der Hitlerarmee auf die Insel seine berühmte Blut-und-Tränen-Rede hielt. Zwar sieht mein Freund weniger bullig aus als der berühmte Brite, aber er ist trotzdem im Besitz von dessen Geist. Und er weiß auch, welche Gefahren Russland drohen, was die erste Voraussetzung ihrer Abwehr ist. Viel Erfolg, lieber Wolodja, auf dem steinigen Weg zur neuen russischen Größe!“ -----------------------------------------------
DIE JAHRESTAGE DER KAPITULATION DER DEUTSCHEN WEHRMACHT AM 8. MAI 1945 WERDEN IN RUSSLAND ALS JAHRESTAGE DES SIEGES IM GROSSEN VATERLÄNDISCHEN KRIEG GEFEIERT. HEUER FIEL DIE FEIER SOGAR ETWAS POMPÖSER AUS ALS IN DEN JAHREN DAVOR. VIELLEICHT UM DEM ANGEKRATZTEN (AUCH IM ZUSAMMENHANG MIT DEM UNERWARTET SCHNELLEN ZUSAMMENBRUCH VON SADAMMS IRAK) RUSSISCHEN SELBSTBEWUßTSEIN EINIGE STREICHELEINHEITEN ZUKOMMEN ZU LASSEN. DIE MEISTEN RUSSISCHEN MEDIEN RÜHRTEN DIE SIEGESTROMMEL, ALS WÄRE DER SIEG NICHT VOR 58, SONDERN VOR FÜNF JAHREN ERRUNGEN WORDEN. DAS RUNET VERSUCHTE SEIN EIGENES SÜPPCHEN ZU KOCHEN. IM FOLGENDEN DREI BEITRÄGE AUS DEM RUSSISCHEN WELTWEITEN GEWEBE, DIE AUS DEM RAHMEN FALLEN:
In
Russland leben 145,5 Millionen Menschen. Nach der Zahl der Bevölkerung
steht Russland an siebenter Stelle hinter China, Indien, den USA,
Indonesien, Brasilien und Pakistan. Nach
der letzten Volkszählung 1989 ist die Bevölkerung um zwei Millionen
zurückgegangen. Es hätten auch 7,4 Millionen weniger sein können,
doch es sind 5,5 Millionen Immigranten eingereist. Was die Migration
betrifft, so rückte Russland nach Amerika und Deutschland auf den
dritten Platz vor. Jährlich wandern 780.700 Menschen nach Russland ein.
Zumeist „Volksrussen“ aus den anderen Nachfolgestaaten
der Sowjetunion. Im
Vergleich zu 1989 gibt es jetzt eine Millionenstadt mehr, nämlich 13. Moskau hat 10 Millionen 358.000 Einwohner, 17 Prozent mehr
als 1989. Dann folgt Sankt Petersburg mit vier Millionen 670.000
Einwohnern. Hier sank die Bevölkerungszahl in dreizehn Jahren um 6,4
Prozent. In
den Millionenstädten leben vierzig Prozent der russischen Bürger. Laut
Statistik sind die meisten Russen (73 %) Städter.
Fast
ein Drittel der russischen Dörfer sind menschenleer, die Häuser
verschlossen. In
Russland gibt es zehn Millionen weniger Männer als Frauen. Die
russischen Männer leben im Durchschnitt
vierzehn Jahre weniger als die Frauen. Die durchschnittliche
Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung liegt bei 58,5 Jahren, bei
den Frauen bei 72 Jahren. Auf
hundert Frauen kommen 125 Kinder, zweimal weniger als für die einfache
Reproduktion nötig wäre. Um wenigstens den Ausgleich zwischen Sterbe-
und Geburtenrate zu halten, müsste jede russische Frau mindestens zwei
bis drei Kinder zur Welt bringen. Aber das ist unmöglich, also wird das
Land überaltern.
ÜBER
DEN NUTZEN ALTER TELEFONBÜCHER Gesetzt den Fall, es sind russische Telefonbücher, die Namen von Funktionären verschiedener Ämter auflisten , können sie aufschlussreich sein. So hat das Forscherteam RUSSISCHE GESCHICHTE unter Leitung von Iwan Matrjoschkin, Esq., mit einem äußerst komplizierten Computerverfahren alte Telefonbücher der sowjetischen Nomenklatura und die aktuellen Bücher der russischen Nomenklatura verglichen. Die Ergebnisse sind verblüffend. Etwa 65 Prozent der Namen in den alten Telefonbüchern der Sowjetzeit finden sich in den neuen Telefonbüchern der leitenden Ämter der Russischen Föderation wieder. Das soll nicht immer, vielleicht sogar nur in Ausnahmefällen, auf Personengleichheit hinweisen. Da seit der Verselbständigung der Russischen Föderation bereits 12 Jahre vergangen sind und seit der Abschaffung des Kommunismus in Russland noch mehr, blieben die Verwüstungen, die der Zahn der Zeit sogar unter den würdigsten Vertretern des Menschengeschlechts anrichtet, auch in diesem Fall nicht aus. So handelt es sich zumeist nicht um die gleichen Personen, sondern um die Kinder, Enkelkinder, Neffen und Nichten der einst Gewaltigen. Aber immerhin kommt eine bemerkenswerte Kontinuität der sowjetischen Adelsgeschlechter zum Vorschein, deren Lebensbäume zwar nicht so alt sind wie die der vornehmen Häuser anderswo, aber immerhin einige Jahrzehnte zählen. Warum
ist das erfreulich? 1.
Weil
Revolutionen gewöhnlich die Herrscher und die Beherrschten
auszutauschen pflegen. Die, die oben waren, stürzen nach unten oder geraten unter die Räder. Es bekommt den heimgesuchten Ländern nicht
immer gut. Sichert aber immerhin eine Erneuerung der Eliten durch
frisches Blut und verhilft dem betroffenen Land zu einem sonst kaum möglichen
Sprung nach vorn. Das
sahen wir im England des
XVII., in Frankreich des XVIII., in Deutschland des XIX. und in Russland
(die Revolution von 1917) des XX. Jahrhunderts. Allerdings pflegen Neuankömmlinge am Steuerrad der Staatsschiffe ihre Frische
bald zu verlieren, verfallen in Routine
und übertreffen im Bösen sogar ihre Vorläufer. Und jene, die viele
Opfer brachten, um das Revirement durchzukämpfen, stellen sich die
bittere Frage: за
что
боролись?
(Wofür haben wir eigentlich gekämpft?). Und man beweint diejenigen,
die man verflucht und dezimiert hat. Nach
der von manchen Ewiggestrigen als Konterrevolution bezeichneten
antikommunistischen Revolution
im Russland des späten XX.
Jahrhunderts, mit dem Namen des langjährigen Politbüromitglieds der
Sowjetära, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, unzertrennlich verbunden,
brauchen die Russen ihre Häupter mit Asche nicht zu bestreuen.
Denn die Elite der Sowjetzeit ist in dieser Revolution
wenig gelitten.
Hätte
die Revolution gar nicht stattgefunden, wären die Telefonbücher mit
Nummern der Moskauer Bürokratie
jetzt
fast dieselben , das
heißt - mit vielen denselben
Namen. 2.
Das lässt uns die Vergangenheit mit nüchternen Augen sehen. Früher hieß es, in der Welt vollziehe sich ein unerbittlicher Kampf zwischen Gut und Böse. Die einen meinten, der Sozialismus (oder was man darunter verstand) wäre das Gute, der Kapitalismus das Böse. Die anderen vertauschten die Prädikate. Daran anknüpfend, hieß es, selbst sei man ein Heilbringer, der andere- ein Drache. Jetzt
sieht man aber, es war eine
Lüge. Auf beiden Seiten. Es gab auf beiden Seiten nur Menschen.
Unvollkommene, selbstsüchtige Menschen. Keine Heilbringer. Und
keine Drachen. (Wenige pathologische Fälle ausgenommen). Sonst hätte
die alte Elite der „sozialistischen“ Sowjetunion nicht so gut in den
kapitalistischen Nachfolgestaaten ankommen
können. Für einen Belzebub gibt es kein Platz in Gottes Paradies. Er
bleibt in der Hölle. Zwar
haben sich die "sozialistischen" und die kapitalistischen Länder
einander hart bekämpft. Aber
es gab in der zivilisierten Welt schon immer Rivalitäten, die
zu Krieg und Terror ausarteten. Der Kampf,
als ein Kampf des Guten gegen das Böse getarnt, war vermutlich
ein normaler Kampf der etablierten
Welt gegen die aufstrebende russische Supermacht unter dem Label
„Sowjetunion“. Ein Kampf, der von der Sowjetunion verloren wurde. Und
angesichts der Opfer, die
er von den Russen erforderte und der menschlichen Qualitäten der Führer
der Sowjetunion, die am wenigsten die eigene Bevölkerung
schonten, hätte man
über den Ausgang des Kampfes sagen
können:„Und das ist gut so“. Wenn der Spruch nicht mit
einem ganz anderen Inhalt besetzt wäre. 3. Vor
dem geschilderten Hintergrund versteht man, warum die westlichen
Eliten so bereitwillig jene ehemaligen sowjetischen Funktionäre
als ihre Partner bevorzugten, die sich entweder durch die typisch
sowjetische Scheinheiligkeit (Gorbatschow) oder die typisch sowjetische
Inkompetenz (Jelzin) auszeichneten. Mit ihnen
kam man leicht ins Geschäft. Man kannte sich schließlich. Zwar
wetterten die Sowjetführer oft und unsinnig gegen den Westen,
aber das gehörte zu den durchschaubaren Spielregeln. Im Laufe der
Zeit wurden die Genossen außerdem immer pflegeleichter. Bis sie sich,
um den Punkt auf I zu setzen, umbenennen ließen. Von den
Erbauern des Sozialismus zu den Erbauern des Kapitalismus. Dabei blieben
sie die alten, die an ihrem eigenen Glück und sonst an Nichts bauten. Der
Dumme ist der einfache Russe, der in der idiotischen Annahme, er
errichte eine neue Welt , Blut schwitzte. Und jetzt, ermattet und
enttäuscht, mit der Mär abgefertigt wird, er werde in zehn, zwanzig
Jahren wie ein Wessi leben. Mindestens wie ein Wessi der zweiten Klasse.
Ein Portugiese. 4. Und
ich, Iwan Matrjoschkin, Esq., der meinen Fähigkeiten und Verbindungen
nach (das hässliche Wort Seilschaften will ich gar nicht in den Mund
nehmen), zu den Hauptgewinnern der russischen Transformation gehören könnte,
muss die Schikanen der weiblichen Holzpuppen, abgebildet auf der
Startseite von www.matrjoschka-online.de,
ertragen. Und mein einziger Trost ist die Stammtischrunde in der Kneipe
Sonnenschein, Berlin, Prenzlauer Berg. Aber auch hier werde ich vom
Fatum verfolgt. In Gestalt des Kneipers
, des geizigen Grobians,
der sich weigert, meine wenigen Bierchens anzuschreiben. 26.7.03
PISSOIR
MACHT GESCHICHTE
Es
ist keine Übertreibung. Es ist eine nüchterne Feststellung, getroffen
vom Forscherteam RUSSISCHE GESCHICHTE unter der Leitung von Iwan
Matrjoschkin, Esq. 1. Es
geht dabei um die zweite LEGALE Geburt des Kapitalismus in Russland. Die
erste fällt ins XIX. Jahrhundert. Sie erfolgte spontan und dauerte
einige Jahrzehnte. Wie ein gewisser Wladimir Lenin in seinem
Erstlingswerk „Zur Entwicklung des Kapitalismus in Russland“
darlegte, hing diese mit der Abschaffung
der Leibeigenschaft im Zarenreich, dem Bau von Eisenbahnen und
anderen langweiligen Sachen zusammen, die allerdings die Unternehmertätigkeit
stimulierten. Dagegen
wurde, wie Iwan Matrjoschkin, Esq., im hier vorgestellten Forschungswerk
zeigt, die Wiedergeburt
des legalen Kapitalismus in Russland Ende des XX. Jahrhunderts
von oben eingeleitet, ging sehr dynamisch
voran und hing mit sehr spektakulären Prozessen zusammen. Auch mit der
Privatisierung von Pissoiren. Erst dann folgte die Privatisierung
der Industriegiganten, die Milliardäre gebar. Die
Privatisierung der öffentlichen Bedürfnisanstalten war aber nicht deswegen wichtig, weil sie wie der
Eisenbahnbau im XIX. Jahrhundert die wirtschaftliche Grundlage für den
freien Markt im nationalen Maßstab schuf, sondern wegen ihrer
psychologischen Wirkung. Man
braucht wohl nicht auseinander zu setzen, welch eine wunderbare Einrichtung
ein Pissoir in einer Großstadt ist, wo einem Passanten keine vor
fremden Blicken schützenden Baumgruppen usw. zur Verfügung stehen.
Nichtsdestoweniger befanden sich die sowjetischen Pissoire und Scheißhäuser,
solange sie wie die gesamte Wirtschaft der Sowjetunion zum
Staatseigentum gehörten, in einem unbeschreiblichen Zustand. Nicht nur
westliche Ausländer, sondern auch
die wie der
Stahl gehärteten Sowjetbürger suchten diese nur mit größter
Überwindung auf. Deshalb
haben Michail Gorbatschows
und seine Mannen etwa um
1987 beschlossen, die Beseitigung des Sowjetsystems samt der Sowjetunion
mit der Privatisierung der Scheiß- und Pisshäuser einzuleiten. Es
wurden nämlich Kooperative zugelassen, die, selbstverständlich unter
staatlicher Aufsicht, die öffentlichen Toiletten aufpäppeln und
betreuen sollten. Zwar
wurde der früher unentgeltliche Dienst für die Erbauer der
sozialistischen Supermacht abgabepflichtig
gemacht, aber was waren schon zwanzig Kopeken im Vergleich zur
angebotenen Leistung. Zum Genuss, sich unter hygienischen Bedingungen
erleichtern zu können. In besonders
günstigen Fällen sogar Klopapier zu erhalten, davor ein Privileg der
Regierungsmitglieder.
2.
Die
langfristige psychologische Wirkung war aber noch größer als der
unmittelbare Genuss. Denn in den Köpfen
der Sowjetmenschen verfestigte sich ein positives Bild vom
Kapitalismus. Die frühere vage Vermutung, er sei nicht so ganz
menschenfeindlich, wie ihn die Propaganda der Sowjetmacht darstellte,
erhielt konkrete Gestalt. Kapitalismus ist eine menschenfreundliche
Gesellschaftsordnung, kapierte der Sowjetbürger. Eine, die es möglich
macht, auch außerhalb der eigenen vier Wände
gemütlich zu pissen und zu scheißen. Damit
die Erkenntnis sich besser einprägte, durften die privatisierten und
die staatlichen Anstalten in Wettbewerb treten.
Der Betrieb von
privatisierten Pissoiren wurde streng lizenziert. Nur einwandfreie
Genossen konnten mit einer Lizenz rechnen. Da sich diese aber nicht
darum bewarben,
kamen ganz andere Subjekte zum Zuge, die sich die Lizenz
mit Schmiergeld erkauften. Es
war die zweite Lektion. Sie lehrte, dass die Geschäftemacher, auch ohne
Parteibuch, die wahren Erlöser der Menschheit sind. Und nicht die
Phrasendrescher. 3. Dabei
blieb es nicht. Nach reifer Überlegung
entschloss sich die mutige Erneuererriege im Kreml zum nächsten
Schritt. Es wurde die private Tätigkeit im einem anderen sensiblen
Bereich zugelassen. Bei
der Sicherung von Wohnungseingangstüren. Diese
sind aus Pappe gewesen. Ein
Einbrecher hatte leichtes Spiel. Ein energischer Fußtritt gegen die Tür
und schon war er drin. In
den meisten Fällen brachte es ihm wenig. Was gab es da schon zu holen? Aber
man war als sozialistischer Einbrecher
nicht wählerisch.
Man gab sich auch mit Wenig
zufrieden. So
verloren viele Sowjetbürger ihr letztes Hab und Gut. Und verfluchten
diejenigen, die den
Besitz, laut der sozialistischen Theorie, nicht nur für ein Diebesgut
hielten, sondern ihn auch Dieben preisgaben. Indem sie die Wohnungstüre
aus Pappe bauen ließen. Die
Zulassung der Privatiers
zur Sicherung der Türen änderte die Situation. Jetzt wurde es möglich,
seinen Besitz etwas zu schützen. Jetzt konnte ein Sowjetbürger verkünden:
my home is my castle. Wie ein Engländer! Auch
in diesem Fall war die psychologische Wirkung viel relevanter, als der
unmittelbare Nutzen. Denn auch zurückgebliebene
Sowjetbürger begriffen, dass der Kapitalismus dem Werktätigen nicht
das Letzte raubt,
wie die Sowjetpropaganda behauptete, sondern im Gegenteil,
ermöglicht, das Erworbene zu behalten und
ohne Angst zu genießen.
4. Dieser
psychologische Feldzug, der auch einige andere Schlachten gegen
Vorurteile einschloss, machte
das Terrain für weitere Reformen frei. Jetzt konnte man zur
Privatisierung der Industriegiganten schreiten. Jener riesigen Betriebe, die Schweiß und Tränen mehrerer Generationen
der Sowjetmenschen akkumulierten.
Ein
paar harmlose Tricks, die dabei angewendet wurden, wie Verteilung von
Gutscheinen, Vaucher genannt, die angeblich einen Anteil an den Gewinnen
der Unternehmen sicherten, könnte man sich eigentlich sparen. Der
Sowjetmensch hätte sowieso keinen Widerstand gegen die
Privatisierung der staatlichen Wirtschaft geleistet. Denn er
konnte sich überzeugen, dass der Kapitalismus das Leben verschönert.
Am Beispiel der öffentlichen Scheißhäuser und gesicherten
Wohnungstüren. 5.
Zwar
kamen im Laufe der folgenden Jahre einige andere Erfahrungen dazu. Zum
Beispiel jene, dass der Kapitalismus in seiner russischen, von
Gorbatschow, Jelzin und ihren Mannen begünstigten Variante, jeden
zweiten Russen unter die Grenze des Existenzminimums brachte, den
Privatisierern aber
Milliarden Dollar zuschanzte. Aber das steht auf einem anderen Blatt.
Und mindert den Nutzen der sauberen Scheißhäuser und sicheren
Wohnungstüren keineswegs. Meint
Iwan Matrjoschkin, Esq., Leiter des Forschungsteams RUSSISCHE
GESCHICHTE des Konzerns www.matrjoschka-online.de 26.7.03
DIE
MUTTER DER FRIEDENSBEWEGUNG WAR EINE RUSSIN... ...behauptet Iwan Matrjoschkin, Esq. Aber er spinnt. Wie immer.
Denn
Bertha von Suttner Am
Ende des XIX. Jahrhunderts waren Frauen
in der Politik nicht erwünscht.
Erst recht die mit radikalen
Ideen. Bertha von Suttner aber rang weiter für ihre Vision und gründete
die Friedensbewegung. Dafür
erhielt sie 1905 den Nobelfriedenspreis, dessen Stiftung übrigens auf
ihr Drängen und finanzielle
Ausstattung auf das Geld zurückgingen,
das ihr Freund, Alfred Nobel, nicht nur mit der Erfindung von Dynamit,
sondern auch mit dem Verkauf russischen
Erdöls verdient hatte. Russland, wohin man blickte. Zu
allem Überfluss überraschte
der russische Zar Nikolaus der Zweite ungefähr in derselben Zeit seinen
Cousin, den deutschen Kaiser, den französischen Präsidenten und andere
Potentaten Europas mit dem Vorschlag, radikal abzurüsten. (Vielleicht
unter dem Einfluss der Bertha von Suttner?) Nur im Weißen Haus traf er
auf Verständnis. Damals saß dort eben noch
kein George W. Bush. So
ändern sich die Zeiten. Matrjoschka-online.de
erinnert an Bertha von Suttner, der Mutter der Weltfriedensbewegung, aus
aktuellem Anlass. Am 8.3. wird weltweit der Internationale Frauentag
begangen. In diesem Zusammenhang stellen die weiblichen Holzpuppen mit
tiefer Befriedigung fest, dass in Deutschland der Geist
der großen Bertha lebt. Das haben die Damen
der Bundesregierung bewiesen, die zum 8. März einen
leidenschaftlichen Appell gegen den Krieg im Irak verfasst haben. (Siehe
den Anhang). Allerdings meint Iwan Matrjoschkin, Esq., die Frauen sollten für den Krieg nicht mit politischen Appellen, sondern auf die vom antiken Komödienschreiber Aristophanes empfohlene Art kämpfen. Und zwar, indem sie sich den kriegslüsternen Männern verweigern. Die daraufhin eintretende physiologische Wirkung soll die Männer daran hindern, sich auf dem Schlachtfeld zu bewähren. Die
weiblichen Holzpuppen verabscheuen den Hasser der emanzipierten Frauen,
Herrn Matrjoschkin. Sie sind dafür, dass die Frauen verstärkt in die
Politik gehen und wissen sich darin mit dem russischen Präsidenten
Putin einig, der diesen Wunsch zum Internationalen Frauentag geäußert
hat. Allerdings
auch die von Aristophanes empfohlene Art des
Frauenfriedenskampfes hat was für sich. Wie wäre es, wenn Ludmila
Putina, Doris Schröder- Köpf, Frau Chirac
und andere First Ladies Europas ihren Gemahlen das Ultimatum
stellten, entweder stehen diese ihren Mann in der Auseinandersetzung mit
den Amis oder... Wir appellieren auch an Frau Bush, sich dem Kampf
gegen den Krieg mit friedlichen, aber wirksamen Mitteln anzuschließen. ANHANG:
Gemeinsame Erklärung der Bundesministerinnen und der
Staatsministerin zum Internationalen Frauentag (gekürzt): Der
Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Das gilt auch gegenüber dem
Irak. Die
historische Erfahrung zeigt auch: Trotz ihrer Jahrhunderte langen IN
MEMORIAM SERGEI JUSCHENKOW Am
17. 4. 03 wurde Sergei N. Juschenkow in Moskau erschossen. Ein
bestellter Killermord. Juschenkow
war ein exponierter liberaler Politiker. Diese leben in Russland gefährlich.
Vor einiger Zeit wurde eine eloquente liberale Dame, Galina Starowoitowa, in Petersburg gekillt. Dann
ein Mann, wie Juschenkow Kovorsitzender
der liberalen Partei Russlands. Juschenkow
machte die Bilderbuchkarriere eines russischen Liberalen. Zufälligerweise
hatte ein führendes
Vorstandsmitglied des matrjoschka-Konzerns
Kontakt mit ihm, als er (Juschenkow) noch ein der Öffentlichkeit
unbekannter Oberst der Sowjetarmee war. Damals erforschte er die
Untergrundpresse der Sowjetunion an der Moskauer Uni. Keine typische
Beschäftigung für einen Politoberst. Nicht
weniger untypisch war sein Engagement für einen fast zweihundert Jahre
alten Ahornbaum. Er stand in einer Moskauer
Straße, die damals
noch Worowski- Straße hieß- zum
Gedenken an einen russischen kommunistischen Diplomaten, der in den
zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in der Schweiz gekillt
worden war. Jetzt heißt sie wieder wie unter den Zaren
Powarskaja, vom Wort повар
– der Koch, da hier mal im Kreml angestellte Köche lebten.
Zur fraglichen Zeit residierten hier mehrere
ausländische Botschaften. Eine
davon wollte sich erweitern und vereinbarte mit der zuständigen
Behörde die Übergabe eines grünen Fleckchens, wo der erwähnte Baum
stand. Der Baum musste weg, um dem Neubau Platz zu machen. Aber die
sowjetische Gepflogenheit, wonach die Behörden entscheiden
durften, wo welcher Baum wuchs, griffen nicht mehr so resolut wie früher.
Also die durch die Kunde von der Perestroika a la Mischa G.
sensibilisierte Öffentlichkeit
bildete einen Ausschuss zur Rettung des Ahorns. Um der Angelegenheit
mehr Gewicht zu verleihen, führte man die alte Mär ins Feld, unter dem
Ahorn hätte selbst Alexander Puschkin Schatten gesucht. Übrigens nicht
ganz ausgeschlossen, da vor 200 Jahren in der gegenüberliegenden
alten Kirche der Nationaldichter getraut wurde. Wie dem auch sei, kam es
zu einem heftigen Streit zwischen der Behörde und dem öffentlichen
Ahornrettungsausschuss, zu dem ersten seiner Art nach der Großen
Sozialistischen Oktoberrevolution
1917, die unter der Losung „alle Macht dem Volk“ absolviert worden
war, aber leider Gottes das angekündigte
Ergebnis nicht gebracht hatte. Den Sieg verdankte die Öffentlichkeit der umsichtigen, aber entschlossenen Führung des Obristen Sergei Juschenkow, der damit schwungvoll die ersten Sprossen der politischen Karriereleiter nahm. Bei den bald folgenden ersten freien Wahlen ins russische Parlament kam er hin und hat sich damit hervorgetan, dass er die den meisten Abgeordneten noch eigene sowjetische Denkungsart wie ein Löwe bekämpfte. Von der Tribüne, wenn Mischa G. ihm das Wort erteilte. Und
jetzt musste er daran glauben.
Wen
störte der laute, aber auch lautere Mann, der in einer rein virtuellen
Partei den Vorsitz führte? Ein Politiker, der – eine sehr seltene
Ausnahme in der russischen Staatsduma- keine Geschäfte machte, über kein
Geld verfügte und überhaupt
eine Rolle spielte, die jedes politisches Theater braucht, um halbwegs
glaubwürdig zu sein? Ist es in Russland
so weit gekommen, dass sich auf der
politischen Bühne sogar für einen einzigen Don Quichote kein
Platz findet?
Die
russischen Analytiker sind ratlos. Der international anerkannte Augure,
Iwan Matrjoschkin, Esq., auch. Übrigens deprimierte der Auftragsmord
ihn tief. Er trägt sich mit dem Gedanken, Polizeischutz zu
beantragen. Er meint, jetzt werden vielleicht alle Ahornretter einer
nach dem anderen umgelegt. 18.04.03 WAS
VERSPRICHT RUSSLAND DAS JAHR DER SCHWARZEN ZIEGE? Kurz
vor Jahresende forderte Wladimir
Schirinowskij die Monarchie
für Russland. Wer den Thron im Kreml
besteigen soll, wusste der russische Möllemann
bereits. Präsident Putin. Zum
Zaren Wladimir I. ausgerufen, würde er dem Land
Wohlstand und hohes
Ansehen sichern. Und die tschetschenischen Rebellen wie der Zar
Alexander I. vor ca.200 Jahren
endlich zum Räson bringen. Es
wird in Moskau gemunkelt, der Krieg in Tschetschenien ist zu einer
ertragsreichen Goldgrube für russische Generäle
und nicht nur für sie geworden. Für die russische Wirtschaft im
Ganzen ist er dagegen ein Aderlass. Vorläufig lassen aber die hohen Erdölpreise
ihn finanzieren. Sollten
sie aber im Jahr 2003, wenn Russland seinen bisher größten
Schuldendienst leisten muss, sinken,
wird das Land nach drei Jahren Aufschwung runtergerissen. Und da Zurück zu Putin stellen Runet - Auguren fast unisono fest, er baue seine Dominanz weiter aus. Obwohl die von ihm korrigierten Reformvorhaben auf dem halben Wege stecken bleiben. Als ein aussagekräftiges Beispiel wird die Justizreform zitiert. Sie sieht keine nennenswerte Stärkung der Rolle der Anwälte vor. Nicht die Geschworenen, sondern die Richter und die Staatsanwälte befinden weiterhin über das Schicksal der Angeklagten. Auch
die Militärreform steckt im Sand. Der alternative Militärdienst wird
kaum gewährt. Das heißt, die Zahl der Deserteure bleibt hoch und die
Jagd auf die jungen Menschen, die den Militärdienst erst nicht antreten
wollen, wie gehabt. Zu alldem beklagt das Runet wohl aus der Sorge auch
um eigene Zukunft den steigenden Druck auf die oppositionellen
Medien in Russland. Putin mit der Zarenkrone im Kreml ist wohl noch ein Geck. Aber nicht jeder Zar in Russland muss eine Krone tragen. Stalin hat jedenfalls keine getragen. 1.1.03. QUO
VADIS,
RUSSLAND? Fragen Runetanalytiker. Gemeint ist: welchen Weg schlägt Russland nach dem Geiseldrama in Moskau ein? Den der USA nach dem 11.September 2001? Also, Verhärtung in der Innenpolitik, militantes Vorgehen nach außen? Auf diese Fragen bietet das Runet antworten, die mitunter recht spekulativ anmuten. Eine davon lautet: Die
Geiselnehmer, obwohl sie sich
brutal gebärdeten, waren nur
die Vollstrecker, nicht die Urheber des Coups. Die
tschetschenischen Geiselnehmer wurden missbraucht. Sie wussten das nicht.
Sie wussten auch schlecht, was sie wollten. Sie stellten mal eine, mal eine andere Forderung.
Ihr vorgegebenes Ziel- Einstellung
der Kriegshandlungen in Tschetschenien und Abzug der russischen Truppen
aus der nordkaukasischen Republik– war
von vornherein unerpressbar.
Dagegen
wissen die eigentlichen Urheber
des Attentats sehr gut, was sie wollen. Die Urheber, die nicht in
Tschetschenien, sondern in Moskau zu suchen sind. Was
wollen sie aber? Destabilisierung
des Regimes in Russland. Putins Regimes. Deshalb
hätte es wenig Sinn, die tschetschenische Spur zu verfolgen. Die
Kremlspur sei die richtige. Die Spur, die zu jenen führt, die
militanter, viel nationalistischer sind als Putin. Die ihn für
einen Erfüllungspolitiker des Westens halten. Für einen Erben von
Jelzin und Gorbatschow. Es
geht also nicht um die Zukunft Tschetscheniens. Es geht um die russische
Zukunft. Diese
Hypothese lässt Vorgänge erklären, die sonst rätselhaft erscheinen müssen.
Den unbehinderten Marsch des Terrorkommandos durch das russische Gebiet
von Stützpunkten im Nordkaukasus bis zur Stadtmitte in Moskau. Immerhin
1500 Km. Durch alle Kontrollpunkte und Sperren.
Auch
die ungestörte Vorbereitung der Geiselnahme in Moskau. Sie schloss die
Erkundung der Gegend, die Wahl des Tatortes, die Anhäufung des
Sprengstoffes im Theatergebäude ein. Alles wurde abgewickelt, ohne dass
Horch
und Guck etwas merkten. Schliefen sie etwa? Und die V-Leute unter den
Banditen auch? Oder waren sie von jenen irregeführt, die es kraft
der Dienststellung konnten?
Das
Unternehmen versprach einen sicheren Gewinn. Gibt Putin nach, entpuppt
sich der vermeintliche Macho als Schwächling.
Gibt er nicht nach, sind hohe Opfer unvermeidlich. Die schwere
Hypothek für einen, der kam, um den Russen
low and order zu bringen. Sicherheit. Ob
die Rechnung der Hintermänner der Geiselnahme aufgeht, bleibt
abzuwarten. Das Spiel ist noch nicht zu Ende.
In
den ersten Tagen nach der Geiselbefreiung überwiegt in der Bevölkerung
die Freude darüber, dass die meisten Geiseln unversehrt sind und die
Tschetschenen tot. Ob
die Freude lange hält? Ob sie nicht von der Wut über das Schicksal
jener abgelöst wird, die
den Besuch eines Musicals mit
ihrem Leben und ihrer Gesundheit bezahlen
mussten? Eines Musicals übrigens, das
unterschwellig den Stolz vermitteln sollte, ein Russe zu sein. Die
Hintermänner der Geiselnahme appellieren
an das arg strapazierte patriotische Gefühl vieler
Russen. Wenn der Appell ankommt, sind die Tage Putins im Kreml möglicherweise
gezählt. Jedenfalls aber gerät er unter Druck, einen Bushman zu
markieren. In Tschetschenien erst recht loszuschlagen. Passiert
es, sitzt Russland noch fester in der tschetschenischen Falle. Und
verkracht sich endgültig mit den Muslimen. Innerhalb der eigenen
Grenzen. Und draußen. Zu
Freud und Nutzen der Amis. Besonders
gewagte Runet-Menschen gehen noch weiter. Sie schließen die
amerikanische Spur in der Verschwörung nicht aus. Das Geiseldrama sei
eine Quittung der USA für die Weigerung Russlands, im Irak mitzumachen.
Und für den Trend im Kreml, mehr auf die EU als auf die USA zu setzen. Wie
dem auch sei: die Geiselnahme ist beendet, die
Fortsetzung der Intrige folgt. 27.
10. 02 GEISELNAHME
IN MOSKAU: EINE VERRÜCKTE HYPOTHESE Betroffenheit,
tiefste Trauer, Ratlosigkeit... So lässt sich mit
wenigen Worten die
aktuelle Stimmung in der matrjoschka- Truppe definieren. Nota bene:
unter den weiblichen Holzpuppen. Das einzige männliche Mitglied des
Kollektivs, Iwan Matrjoschkin, Esq., bleibt dagegen gefasst. Er
entfaltet ein optimistisches Drehbuch des
Geschehens. „Stellt
Euch vor, - sagte er, – dass die Bomben, die die „Terroristen“ im
Theatersaal überall hängen lassen, Attrappen sind.
Wie ihre Gewehre und Pistolen, die mit Platzpatronen schießen.
Auch ihre tschetschenischen Bärte und Schnurrbärte seien
angeklebt. Kurz und gut, auf der Bühne des Boulevardtheaters wird ein Medienspektakel aufgeführt. Von
sachkundiger Regie. Unmöglich?
Warum denn? In vielen Ländern, Deutschland eingeschlossen, gerät die
Politik immer mehr zur Medienshow. Und da soll Russland eine Ausnahme sein? Ein Land, wo das Tragische und Groteske
bereits seit Jahrhunderten eng verflochten ist? Wo es immer schwer fiel, zwischen Spiel und Ernst zu
unterscheiden? Nehmt
die jüngste Vergangenheit! August 1991. Ein Staatsstreich, der keiner
war, sondern eine eingehend geplante und sorgfältig aufgeführte
Einmannshow. Mit Jelzins effektvollem Appell
von einem Panzer an die versammelte Menge, die Demokratie zu
verteidigen. Eine
Show, die alle Bestandteile
eines guten Theaterstücks, in der richtigen Folge abgespult, aufwies.
Verschwörung der bösen Geister. Angst und Bange um den
strahlenden Helden. Triumph der Tugend. Eine Show, die dem neuen
Russland, wo das aus dem Untergrund nach oben strebende große
Geld das Heft in der
Hand hat, Geburtshilfe leistete. Oder
Silvester 1999. Die spektakuläre Machtübergabe von Jelzin, inzwischen
zum Gespött der Russen geworden, an den jungen, dynamischen Nachfolger
Putin. Ausgerechnet am letzten Tag des alten Jahrtausends. Super
symbolträchtig. Super theatralisch. Ihr
fragt: Angenommen, auch die Geiselnahme ist eine geschickte Aufführung.
Was soll sie bezwecken? Nun, vielleicht einen
Rückzug Putins aus der blutigen Sackgasse des russischen Krieges
in Tschetschenien. Des Krieges, der nach überwiegender Meinung der
Russen nicht mehr
zu gewinnen ist. Des Krieges, der von außen angeheizt und
finanziert, zur Legitimation der Gewaltanwendung in der weiten Welt
missbraucht wird, was sich mit der Zeit
gegen Russland selbst wenden lässt. Putin,
dem zu wenig Mitgefühl mit geschundenen Landsleuten und zu viel Härte
vorgeworfen wurde, müsste es eigentlich nur gelegen sein, dem missglückten
Waffengang ein Ende zu setzen. Unter dem Vorwand, die Geisel
retten zu wollen. Das
wäre eine elegante Lösung. Ohne Gesichtsverlust. Und vor den
aufgerissenen Augen der
gesamten Weltöffentlichkeit. Eine
spekulative Variante? Gewiss. Aber sie erklärt, wie der Coup der „Tschetschenen“ inmitten der russischen
Hauptstadt möglich geworden ist. Und womit rechneten die
„Terroristen“, als sie sich darauf einließen. Denn ein Blutbad könnten
sie doch auf eine ganz andere Art anrichten. Mit
weniger Risiko. Spekulativ oder nicht, wäre die angedeutete Variante jedoch viel besser als jede andere. Viel optimistischer! Und ich halte mich an das Prinzip Hoffnung! Und glaube an die Russen. So
sprach Matrjoschkin, Iwan. Die weiblichen Holzpuppen hörten dem Gespinne mit abweisenden Gesichtern zu. Einige holten die Luft durch ihre Nüstern, als suchten sie der eigentlichen Ursache der abenteuerlichen Hypothese dadurch auf die Spur zu kommen. Aber das eingeübte Verfahren brachte keine eindeutigen Ergebnisse. 24.10.02.
WIRD
RUSSLAND DAS JAHR 2014 ÜBERLEBEN?
Vor
einem Viertel Jahrhundert kam ein aus der Sowjetunion
geschmuggeltes Manuskript mit dem Titel „Wird die Sowjetunion
das Jahr 1984 überleben?“ im Westen heraus. Die Auslassungen
eines Studenten aus Moskau (Andrej Amalrik) wurden teils als
sensationell, teils als oberflächlich empfunden. Kaum jemand glaubte
jedoch ernsthaft daran, dem zweitmächtigsten Reich der Welt hätte die
Stunde geschlagen. Es war
aber so. Etwas später, als vorausgesagt, haben wir erlebten es.
Jetzt
wird immer öfter eine ähnliche Frage hinsichtlich der Zukunft des größten
Nachfolgestaates der Sowjetunion gestellt. Wird die Russische Föderation
das Jahr 2014 oder das Jahr 2024 überleben?
Das
Forschungsteam von matrjoschka unter der Leitung des weltberühmten
Ethnographen und Historikers Iwan Matrjoschkin, Esq., durchforstete das
Runet, um den matrjoschka- Lesern in kurzen Thesen das Wesentliche dazu
vorzustellen. Hier sind sie, die fünfzehn Thesen von matrjoschka :
1.
Alles, was einen Anfang hat, muss auch ein Ende haben. Der Staat als
Institution scheint ewig zu sein. Dem ist aber nicht so. Die Menschen
lebten einst ohne. Und werden es wieder können.
2.
Wenn die Institution des Staates nicht ewig ist, müssen davon zuerst
die instabilen Staaten
betroffen sein. Die Russische Föderation ist ein solcher Staat.
In vielerlei Hinsicht.
3.
Dem widerspricht keinesfalls die Tatsache, dass die RF als souveräner
Staat jung ist. Nicht jedes neugeborene Kind
erreicht ein hohes Alter. Manche sterben früh. Leider.
4.
Die RF weist Bruchlinien auf, die sich kreuz und quer über ihr
Territorium ziehen und, wenn ein (politisches oder
wirtschaftliches) Erdbeben kommt, zu ihrem Auseinanderbrechen führen können.
5.
Dazu kommt ihre zivilisatorische Uneinheitlichkeit.
So hat sie eine Kernregion: die vorwiegend russisch besiedelten
Gebiete der kirchlich-
orthodox geprägten Zivilisation (etwa 82 Prozent der Bevölkerung).
Dann folgen nach der Bevölkerungsgröße die Regionen der islamischen
Zivilisation (etwa 14- 15 Prozent der gesamten RF -Bevölkerung) in den
Enklaven an der Wolga und im Nordkaukasus. Weiter die buddhistischen und
lamaistischen Regionen (Kalmykien,
Tuwa, Burjatien u.a.).
Wenn
der slawisch- orthodoxe Zivilisationskern eine eigene Schwerkraft
besitzt und sich selbst genügt, sind die anderen der Anziehungskraft
großer Zivilisationen unterworfen, deren Schwerpunkte außerhalb
der RF liegen.
6.
In der Sowjetzeit überlagerte die kommunistische Ideologie die
Zivilisationsunterschiede (worin auch ihre wichtigste Funktion bestand).
Jetzt treten diese immer stärker zutage und gefährden die Zukunft der
RF. Die Regionalisierung der Russischen Föderation nach der
konfessionellen Zugehörigkeit der Regionen gewinnt immer mehr an
Bedeutung.
7.
Die RF ist die Heimat von über 100 Völkern. Sprachlich teilen sie sich
in zwei große Gruppen: die slawische (Russen, Ukrainer, Belorussen) und
die türkische (Tataren, Jakuten, Tscherkessen usw.). Die slawische bzw.
die türkische Identität ist ein wesentliches Merkmal des
Selbstverständnisses eines RF- Bürgers.
8.
Außerdem zieht sich die Bruchlinie auch durch die
slawischen Gebiete der RF. Wenn auch weniger spektakulär, teilt
sich das russische Kernland in
Nord- und Südrussland. Ein Russe aus den Regionen, die nördlich von
Moskau liegen, empfindet einen Russen aus den Regionen tiefer im Süden
wenn nicht als fremd, dann als anfremdelnd. So kommt ihm der südrussische
Dialekt unangenehm vor ( wie einem Preußen das Bayerische und das Sächsische).
Der Unbeliebtheit von
Gorbatschow in der russischen Bevölkerung trug seine unausrottbare südrussische
Aussprache bei, die von
einem Moskauer und erst recht von einem Petersburger als vulgär
empfunden wird.
9.
Wirtschaftlich gingen Nord- und Südrussland
in der Geschichte verschiedene Wege. Im Norden bestimmte die
Wald- im Süden die
Steppenlandschaft die Lebensweise. Im Norden – der Ackerbau, im Süden-
Viehzucht die Wirtschaft. Im Norden – die Sesshaftigkeit, im Süden-
das Nomadentum die Sitten.
10.
Die Nord- und die Südrussen sangen verschiedene Lieder, kochten
verschiedene Gerichte, feierten verschiedene
Festen und wenn auch dieselben, dann auf verschiedene Art. Sie unterscheiden
sich nach dem Temperament,
der Mentalität, dem Lebensstil, den Gepflogenheiten usw. Wenn man eine
Reise vom Norden Russlands in den Süden macht, merkt man plötzlich,
man ist in einem anderen Land.
So
gibt es vom Standpunkt eines Sprachforschers oder Ethnographen
eher zwei Volker, das nordrussische und das südrussische als ein
und dasselbe russische
Volk.
11.
Auch das politische Verhalten der Nord- und Südrussen ist nicht
dasselbe. Die Steppe war schon immer der Hort von Aufruhr und Anarchie.
12.
Noch eine Bruchlinie verläuft entlang der
Grenze zwischen den Kontinenten. Europa endet am Ural, weiter fängt
Asien an. Die RF ist ein eurasischer Staat. Viele russischen Ideologen
versuchten, aus der Not eine Tugend zu machen. Sie verwiesen darauf,
dass Russland daraus
besondere Lebenskraft schöpft.
Aber
die Geschichte lässt die These schwer aufrechterhalten. Denn alle
anderen Versuche, eurasische Reiche für die Dauer aufzubauen,
scheiterten. Die Reiche der Makedonier, der Griechen, der Römer,
Byzanz, der Tataren, der Osmanen
usw. erwiesen sich als Provisorien. Auch das russische Reich
erlebte viel Troubles gerade deswegen, weil es sowohl in Europa, als
auch in Asien lag.
13.
Das Bilderbuchbeispiel Sibirien. Diese riesige Region befindet sich
mehrere Tausende Kilometer von den Schwerpunkten der europäischen
Zivilisation entfernt und grenzt mehr oder weniger unmittelbar
an die militärisch, wirtschaftlich und ideologisch immer stärker
werdenden Mächte des Ostens: China, Korea, Japan und andere. Relativ dünn
besiedelt und mit Naturschätzen begnadet,
ist es ein Magnet für die gierigen, unter Überbevölkerung und
Ressourcenknappheit leidenden Nachbarn. Es ist illusorisch anzunehmen,
die RF würde Sibirien behalten können, wenn alles so weiter wie jetzt
läuft. Aber der Verlust Sibiriens, auf welche Weise er auch erfolgen
mag, wird die ganze RF als souveränen Staat sprengen.
Solange
der Eiserne Vorhang existierte, kontrollierte
Kernrussland die Entwicklung. Die Öffnung Russlands im Zuge der
Wende ließ die Alarmglocken läuten. Zwar erschloss Russland Sibirien für
die europäische Zivilisation, aber die Früchte werden wohl andere
ernten. Außereuropäische, Europa
wenig wohlgesinnte Mächte. Wenn sie Sibirien einheimsen, ist das bis
jetzt für Europa günstige
Kräfteverhältnis zutiefst gestört. Europa kann sich dann einsargen.
14.
Eine Bruchlinie der
Zivilisationen verläuft auch
zwischen Kernrussland und
Nordkaukasus. Der Nordkaukasus gehört erst seit 150 Jahren zu Russland
und liegt zwischen Europa und dem Orient. Seit dem Zusammenbruch
der Sowjetmacht feiern hier die Zustände, wie sie vor der von Russland
bewirkten Modernisierung existierten, eine feierliche Wiedergeburt. Räuberei,
Sklaventum, Blutrache. Die Industrie, das moderne Gesundheitswesen, die
Volksbildung, die, wenn auch korrupt gewesene, aber kodifizierte Justiz
werden erledigt. An der Grenze Europa entsteht der Stützpunkt einer
Lebensweise, die mit der europäischen nichts zu tun hat.
15.
Heißt das, was hier
in vierzehn Punkten
aufgezählt wurde, dass die RF keine Zukunft hat. Das von Iwan
Matrjoschkin, Esq. geführte Team vertritt einen anderen Standpunkt. Und
zwar aus folgenden Gründen.
a)
In Europa, vielleicht auch in den USA, erkennt man bereits
Anzeichen einer konstruktiven Änderung der Russlandpolitik. In den
letzten Jahren stand sie, trotz vieler schöner Worte, unter der Prämisse,
dem Westen ist ein geschwächtes Russland von Vorteil. Die Politik des
kalten Krieges wirkte nach. Ob bewusst oder nicht, ließen sich die
Eliten davon auch in der Zeit leiten, als die Konfrontation in Europa
bereits passe war.
b)
Jetzt aber fängt ein richtiges Umdenken an. Man erkennt, wo die
wahre Gefahr liegt. Nicht darin, dass Russland auf die Beine kommt.
Sondern darin, dass der russische Staat, der ein Jahrtausend Europa vom
Druck Asiens abschirmte, keine
Kraft mehr hat, diese Funktion auszuüben. Der 11. September 2001 half,
die Maßstäbe der Gefahr bewusst zu machen.
c)
Die Russen waren nie ein Spielball der Geschichte. Letztendlich
haben sie immer die Kraft gefunden, ihren Staat zu festigen. Ein
Verschwinden des russischen Staates von der Weltkarte ist undenkbar.
Auch wenn alles, was einen Anfang hat, sein Ende findet, bleibt er
solange bestehen, wie der Staat als Institution
seine Berechtigung behält. Und das dauert wohl noch. Trotz der
Globalisierung.
6.09.02
ZWISCHEN
BAUM UND BORKE Brief eines vermeintlichen Eurasiers in einem Beitrag von heute berichtest Du vom Zoff zwischen W. Putin und A. Lukaschenko (siehe den Link von der Dame mit dem Besen. Anm. von m.) und machst das mit unverhohlener Genugtuung. Dabei ist Lukaschenko der letzte Staatschef eines Nachfolgestaates der Sowjetunion, der mit Russland noch gemeinsame Sache machen wollte. Alle anderen wollen nicht. Die Ukraine klopft lautstark an der NATO- Tür. Die kaukasischen Republiken suchen sich andere Beschützer. Die mittelasiatischen auch. Die Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten (GUS) war vom Anfang an kein lebensfähiges Kind. Jetzt aber, nach zehn Jahren seit ihrer Gründung, bietet sie das unansehnliche Bild einer verwesenden Leiche. An Russland Stelle wetteifern die USA, stellvertretend auch die Türkei, Deutschland, England, Frankreich, Japan, China usw. um den Einfluss in den ehemaligen Randdomänen des Kreml. Es ist wohl unvermeidlich gewesen, dass das mächtige sowjetische Reich zerfiel: Zu viel hat die selbstgefällige und größenwahnsinnige Sowjetführung ihm zugemutet. Aber dass die ehemaligen Randrepubliken der Sowjetunion um das Kernland Russland einen sich immer feindseliger gebärdenden Ring bilden, wäre wohl zu vermeiden gewesen. Bloß unter einer anderen Führung. Nicht unter den Erfüllungspolitikern Gorbatschow und Jelzin. Jetzt hat man den Eindruck, es geht allmählich darum, dem russischen Bären sein Fell abzuziehen, seine Knochen abzutrennen und sein Fleisch zu zerteilen. Die Jäger des Abendlandes wetzen schon ihre Messer. Allein bewältigen sie das Vorhaben allerdings nicht. Wollen sie auch nicht. Zu umständlich, risiko- und opferreich. In einer zivilisierten Welt wird es anders gemacht. Die willigen Knappen sollen her. Und diese stehen schon Schlange. Aus Taschkent, Tbilissi, Kiew... Allerdings lassen wir nicht die Hoffnung fahren, in den Eliten des Abendlandes wird nicht die blinde Gier nach Beute siegen, sondern Weitblick. Wie man über das Zarenreich und über seinen Erben, das Sowjetreich, auch urteilen mag, waren die beiden ein Ordnungsfaktor zwischen Atlantik und Pazifik. Das Gespenst der russischen und dann der sowjetischen Gefahr war zwar in den Schlagzeilen der freien Presse immer präsent, dennoch wussten die Eingeweihten in Washington, London, Paris, und wie die Hochburgen der abendländischen Eliten sonst noch heißen, Bescheid. Und zwar über die Rolle Russlands bei der Abwehr von Milliarden farbigen Stiefkindern der industriellen Zivilisation. Die Rolle Russlands, das bereits vor 800 Jahren die berittenen Horden der Mongolen von Europa abhielt. Hätte es dies unter riesigen Opfern nicht getan, müssten wir jetzt Pferdefleisch kauen. Aber verschoben ist bekanntlich nicht aufgehoben. Die endgültige Zerstörung Russlands würde die Hauptstrasse der neuen Völkerwanderung öffnen. Hin zum Überfluss. Erst recht, wenn diese Zerstörung Russlands unter Anspruchnahme von Knappendiensten der Usbeken, Kasachen und anderer Völker Mittelasiens oder Tschetschenen, Aserbaidschaner und anderer Völker des Kaukasus stattfindet. Dann ade Europa! PS. Wir bringen den Brief des Lesers von matrjoschka- online ohne dass wir ihm in allen Punkten zustimmen. Leider ist unser Experte für komplizierte Prozesse auf dem Globus, Iwan Matrjoschkin, Esq., unterwegs. Mit Reisegeld aus der Kasse des Konzerns versorgt, brach er zum Empfang eines Autokonvois aus Russland auf, der in Deutschland eintrifft, um bei der Abwehr der Sintflut zu helfen (zur Zeit wohl aktueller als die Abwehr, von der unser Leser schreibt). Wenn der Esquire, der beim letzten redaktionellen Versuch, fernamtlich seinen Standort zu ermitteln, etwas Unzusammenreimendes lallte, wieder im Berliner Hochhaus von matrjoschka auftaucht, analysiert er die Thesen des Lesers, der mit „Ein Eurasier“ unterschrieben hat. 22.8.02 QUO VADIS, RUSSLAND? Gewiss ist der Anlass, erneut darüber zu rätseln, auf den ersten Blick der Bedeutung der Frage nicht ganz angemessen. Obwohl die Moskauer Krawalle bei der Fernsehübertragung des vom Russland verlorenen Fußballspiels gegen Japan, abgesehen von vielen verwüsteten Geschäften und demolierten Autos, zwei Todesopfer forderten, sind sie weitweit nichts Außergewöhnliches. Auch anderswo schlugen die Leidenschaften um den ledernen Fetisch hoch. Doch wurden das in anderen Ländern mit Lächeln, schlimmstenfalls mit Schulterzucken quittiert. Und niemand fragte, wohin denn dieses oder jenes Land steuert, wenn seine Fußballfans die öffentliche Ordnung auf den Kopf stellen. In Russland war es anders. Hier wirbelten die Krawalle viel Staub auf. Das große Rätselraten um die im Titel des Editorials zitierte Frage ging wieder los. Wovon zeugt das? Von einer inneren Unsicherheit in der Gesellschaft? Schon möglich, gibt es doch genug Gründe dafür. Tatsächlich wagt kein ernst zu nehmender Beobachter der russischen Szene die Behauptung, Russland hätte sich endgültig stabilisiert und steuert einer sicher voraussagbaren Zukunft entgegen. Auch unter der starken Präsidentschaft von Wladimir Putin spricht zu viel gegen diese, von allen Freunden Russlands ersehnte Diagnose. Die andauernde Kapitalflucht aus dem Lande. Die offensichtliche Abhängigkeit der einzigen in Russland boomenden Energieträger- und Rohstoffwirtschaft von den schwankenden Weltmarktpreisen, mit der bei weitem nicht überwundenen Krise der verarbeitenden Industrie gekoppelt. Die Käuflichkeit der Behörden und der Presse. Die unverändert hohe Gewaltkriminalität, an fast täglichen Morden von Staatsbeamten und Geschäftsleuten ablesbar. Wenn auch ein zaghafter Trend zur Besserung der Allgemeinlage unbestreitbar ist, von einer nachhaltigen Entwicklung zu sprechen, hieße, sich im Wunschdenken zu üben. Wird das im Westen wahrgenommen, hört man die resignierende Feststellung, in einem Land wie Russland müssen wohl mindestens zwei-drei Generationswechsel stattfinden, damit die neuen Verhaltensweisen einkehren. Ist es aber wirklich so, dass ein Generationswechsel Russland automatisch voranbringt? Auch wenn eine Generation zum Zuge kommt, deren Angehörige, chauvinistische, fremdenfeindliche Parolen rufend, unlängst die Moskauer Mitte demolierten? Zwar bescheinigt die Moskauer Miliz den Randalierern Harmlosigkeit, spricht von Fans und Hooligans, die sich austoben wollten, um sich danach wieder dem Alltag zuzuwenden. Aber in der entfachten öffentlichen Debatte wurde es als Vertuschung des eigenen Unvermögens oder sogar eines versteckten Zusammenspiels mit dem Mob abgetan. Mit recht. Denn es ist bei weitem nicht die erste Kundgebung der in den Tiefen der Gesellschaft vermutlich reifenden destruktiven Kräfte. Ähnliche Vorfälle ereigneten sich in letzter Zeit immer öfter. Zum Beispiel vor wenigen Monaten auf einem Markt im Moskauer Vorort Zarizino. Auch mit Todesopfern und großem Sachschaden. Die Pogromhelden- oder wenigstens ihre Anführer- tragen oft wenig abgewandelte Hakenkreuze oder Runen und beten die entsprechenden deutschen Vorbilder an. Insofern hat das böse Wort vom Weimarer Russland Sinn. Wollen wir aber die mentale Ansteckung aus der deutschen, mehr oder weniger bewältigten Vergangenheit nicht überbewerten. Die Hakenkreuzträger gäbe es im heutigen Russland nicht, hätten seine aktuellen sozialen Verhältnisse und seine jüngste Sozialgeschichte keine Ähnlichkeit mit denen im damaligen Deutschland. Die Ähnlichkeit ist aber nicht zu leugnen, auch wenn Putin kein Hindenburg und ein russischer Hitler (noch?) nicht in Sicht ist. Was haben denn die jungen Leute erlebt, die an der Kremlmauer tobten? Den plötzlichen Zusammenbruch einer Ordnung, die zwar vom Ansatz her falsch, aber trotzdem ziemlich fest zusammengefügt war. Das rapide Entstehen einer kleinen, arroganten Schicht von Superreichen vor dem Hintergrund eines, selbst in Russland noch nie da gewesenen Massenelends. Den Verfall aller in der Transformationszeit gepriesenen Werte, die sich als Instrument machthungriger Politiker und dollargeiler Privatisierer entpuppten. Käuflichkeit, wohin man auch blickt, angefangenen beim Klassenlehrer, der von seinem Gehalt nicht leben kann. Einen fast zehnjährigen Krieg gegen ein kleines Volk im Nordkaukasus, reich an Massakern der Zivilbevölkerung, Raubzügen, Vergewaltigungen und Generalsaffären. Muss da „Mein Kampf“ gelesen werden, um die Lust zu bekommen, wild nach rechts und links zu schlagen? Nota bene: Es geht hier um eine Generation, die wenig aus der Sowjetzeit mitbekommen hat. Es ist aber sehr fraglich, ob sie dadurch unbedingt besser ist, als die der Väter. Auch fragt man sich, ob die nächste unbedingt besser sein wird als die jetzige? Wo liegt die Gewähr dafür, wenn sich die sozialen Verhältnisse nicht grundlegend bessern und erst recht- wenn sie sich noch mehr verschlechtern? Das soziale Gedächtnis stirbt nicht mit einer Generation. Es geht auf die nächste über, es kumuliert negative Erfahrungen. In der Mentalität der jetzigen Generation in Russland leben die bitteren Enttäuschungen des Pseudokommunismus weiter. Und die bitteren Erfahrungen des Postkommunismus oder des Antikommunismus kommen dazu. Die nächste Generationen erbt das Gedankengut. Es gibt deshalb keinen Grund anzunehmen, dass das zukünftige Russland sein Leben noch bereitwilliger nach gutgemeinten Ratschlägen aus dem Westen ausrichtet. Eher schon im Gegenteil. Wenn es weiter so geht, ist auf ein pflegeleichtes Russland, das wie ein frisierter Pudel an der Leine trippelt, wenig Hoffnung. Besonders wenn das Abendland seine eigenen Probleme nicht löst, die auf das viel schwächere Russland mit doppelter und dreifacher Wucht zurückschlagen. Und wenn die viel beschworene Zusammenarbeit mit Russland weiter nach der verkürzt verstandenen eigenen Interessenlage gestaltet wird. Gibt es da keine Wende, kann sich die westliche Welt vermutlich auf eine neue Gefahr aus dem Osten gefasst machen, die zwar anders als die einst befürchtete ist, aber auch ein größeres Potenzial hat. Jedenfalls wird sie nicht durch ein seniles Politbüro, sondern durch tatkräftige Jugend repräsentiert, die ihr Kommen mit den jüngsten Krawallen in der Moskauer Stadtmitte ankündigte. Mit freundlicher Genehmigung des in Berlin erscheinenden Magazins "Wostok". 26.6.02 KEHRT
STALIN NACH RUSSLAND ZURÜCK? Ja,
behauptet der russische Politologe Nikolai Gulbinski, Chefredakteur
einer linksliberalen Zeitung,
auf der Runetsite APN. Anlass gab ihm die Verhaftung des
Literaten Eduard Limonow, bekannt durch seine linksradikalen
publizistischen Auftritte. Zwar bestreitet Gulbinski nicht, dass
Limonow manchmal die Grenze des Strafbaren überschritt, lehnt aber
die strafrechtliche Verfolgung der
Presseäußerungen grundsätzlich ab. Auch das
Verbot von eindeutig extremistischen Werken. Der Extremismus
wird nicht von Schriftstellern geschürt, sondern von Staatsmännern,
die eine falsche Politik durchführen. Hat etwa Limonow
neunzig Prozent der russischen Bevölkerung ins Elend gestürzt,
fragt Gulbinski. Hat er
1993 Panzer gegen
das unbotmäßige russische Parlament
in Moskau auffahren lassen? Hat er die Finanzkrise von 1998
verschuldet, die die Spareinlagen entwertete? Hat er
im Westen 150 Milliarden Dollar
geliehen und verschwinden lassen? Hat er den Krieg gegen
Tschetschenien ausgelöst? Auch wirft der Politologe Gulbinski
dem Westen vor, selektiv die Pressefreiheit in Russland zu
verteidigen. Als es um einen russischen Medienmagnaten ging, waren die
westlichen Anwälte der Pressefreiheit zur Stelle. Für den
verhafteten Schriftsteller Limonow rührt sich keine Hand, weil er
antiwestlich wirkte. Dieselbe
Runetquelle, APN.ru, erteilt Lesern das Wort über Limonows
Verhaftung, die in einer
anderen Ecke als Gulbinski angesiedelt sind. Diese glorifizieren die Herrschaft Stalins (gest. 1953). Der
Diktator hätte dem russischen Volk Brot und Ordnung gesichert und
Russland zu einer superstarken Weltmacht gemacht. Es sei Zeit darüber
nachzudenken, was die Entstalinisierung und die spätere
„Perestroika“ Russland gebracht hat. Limonow und seine Mannen hätten
sich nicht nur darüber Gedanken gemacht, sondern auch etwas zur
Schadensbegrenzung unternehmen wollen.
Das sei ihnen zum Verhängnis geworden. Der grundsätzliche Fehler
Putins bestehe nicht darin, dass er,
indem er einen
Limonow einlochen ließ, Stalin
mit seinem Meinungsdiktat nach Russland zurückholte, sondern darin,
dass er sich damit dem Westen andiente.
5.2.02 DER FLUG DES DOPPELKÖPFIGEN ADLERS Das russische Wappentier hat zwei Köpfe, weil das Zarenreich, wo es gezüchtigt wurde, sich sowohl im Westen, in Europa, als auch im Osten, in Asien, stark engagierte. Damit ist es vorbei. Jetzt starrt Russland gen Westen. Der Doppeladler muss neu gedeutet werden. OG.ru meint, jetzt symbolisiere der Vogel die Unvereinbarkeit der russischen Innen- und Außenpolitik. Die erste blicke in die Vergangenheit, die zweite in die Zukunft. Noch vor wenigen Jahren schien es, die Liberalisierung Russlands sei eine unabdingbare Voraussetzung seiner Westintegration. Die Erfahrungen der allerletzten Zeit lassen eher ein umgekehrtes Verhältnis vermuten. Unter Putin vollziehe sich ein rapider Abbau der demokratischen Rechte und Freiheiten wie er unter seinen Vorgängern nicht stattfand. Im gleichen Tempo nähert sich Russland dem Westen an. Das
erklärt sich durch die ambivalente Einstellung der Russen zum Westen.
Zwar wollen sie „wie im Westen“ gedeihlich leben,
hängen aber an ihren
eigenen Kulturwerten. Deshalb erfordert die konsequente Eingliederung
Russlands ins westliche Bündnis, das sich nach dem 11.9.2001 immer mehr
als Kampfverband gegen andere
Zivilisationen versteht, einen
gewissen Druck von oben auf die russische Bevölkerung. Die Russen müssen
mit der Knute zu ihrem Glück gezwungen werden. Putin tut es. Und solange
Russland im Westen gebraucht wird, unterstützen die westlichen Partner
sein Vorgehen, auch wenn es mit den (früher?) geheiligten Werten des
Abendlandes kollidiert. 18.06.02
DIE
RUSSISCHEN GLATZEN Dieser
Tage besuchten mehrere Botschafter
aus West und Ost den russischen Außenminister Igor Iwanow,
um ihr Befremden darüber zum Ausdruck zu bringen, dass Gäste
aus ihren Ländern auf Moskauer Strassen angepöbelt, geschlagen,
mitunter auch erschlagen werden. Ob Russlands unter Putin gestärktes
Nationalbewusstsein diese Ausdrucksform braucht? - erkundigten sie sich.
Und ob die Glatzköpfe, die in der russischen Hauptstadt Jagd auf
fremd aussehende Männer
und Frauen treiben, nicht gestoppt werden können? Dem
Vernehmen nach zeigte sich Iwanow von der besten Seite. Er bedauerte die
Zwischenfälle und versprach Abhilfe. Nach dem Gespräch ließ er die
russischen Ordnungshüter wissen, dass die Jagd auf
Ausländer in Moskau die Beziehungen zwischen Russland und seinen
Partnern nicht sonderlich fördert.
Auch die begehrten Investitionen der Ausländer
in die russische Wirtschaft nicht. Es
wäre natürlich verkehrt, hätte er seine ungebetenen Gäste darauf
verwiesen, dass die Ausschreitungen gegen die Fremden in Moskau nach der
von den USA vorgenommenen Selektion der Völker der Welt auf Gute und Böse
etwas zugenommen haben. Verständlicherweise. Früher haben die
russischen Skinheads Personen mit dunklem Teint, die in ihrer Sprache
Schwatzarschige (черножопые) heißen, einfach so
zusammengeschlagen. Jetzt können sie
es in dem Bewusstsein tun, zum Kampf gegen die Achse des Bösen
beizutragen. Denn die Guten und Bösen haben aus irgendeinem
Grund verschiedene Hautfarbe. Von
Gott gezeichnet? Auch
hätte der russische Außenminister, wäre er weniger taktvoll, die Kläger
auf fremdenfeindliche Ausschreitungen
in ihren Ländern verweisen
können. Zum Beispiel den deutschen Botschafter darauf,
dass die sogenannten Russlanddeutschen, in ihrem historischen und
heiß geliebten Vaterland angekommen, hier nicht immer ganz glücklich
sind. Denn in den Augen vieler „Reichsdeutschen“ sind sie Russen.
Und die Russen seien „Hunde und Schweine“. Jedenfalls dokumentieren
mehrere deutsche Vereine diese Einstellung, die sich dem Kampf gegen
Fremdenhass verschrieben haben.
Zwar
hat die Bundesregierung vor einiger Zeit dankenswerterweise zum Aufstand
der Anständigen gegen
die Xenophobie aufgerufen. Aber der Erfolg des Aufstandes ist
anscheinend mäßig. In
etwa so groß wie der des Kampfbundes
gegen die Arbeitslosigkeit.
Übertreiben
darf man allerdings auch nicht. Den Ausländern oder solchen, die für
diese gehalten werden, passiert in Deutschland
Schlimmes seltener als in Russland.
Deutschland ist eben ein kulturvolles Land, das seine
Vergangenheit bewältigt hat.
Die
tiefsten Wurzeln des Fremdenhasses sind allerdings eher in der Gegenwart
als in der Vergangenheit zu suchen. Und sie sind in Deutschland und
Russland wohl die gleichen. Frust. Einer, der frustriert ist, glaubt zu
gern, es seien die Fremden, die ihm das Leben vermiesen.
Unser
Kontinent schreitet munter zur Integration, doch der Fremdenhass
scheint, auch im vereinten
Europa, einen festen Platz zu haben.
Mitunter gewinnt man sogar den Eindruck, die Glatzen
nutzen die Freizügigkeit im neuen Europa, um sich zu vereinigen.
Skinheads aller Länder vereinigt Euch, lautet die Parole einer
neuen Internationale. Eine zukunftsträchtige Parole. Die Glatze ist überall
dieselbe. Im Unterschied zur Frisur... In
den Moskauer Zimmervermietungsannoncen
ist immer öfter zu
lesen, nur ein Mensch slawischer Herkunft komme als Mieter in Frage. In
Deutschland wäre dies strafbar. Einst
war Deutschland das Spitzenland der Rassendiskriminierung. Jetzt ist das
ehemalige Land des proletarischen Internationalismus im Begriff, die
freigewordene Stelle zu besetzen. So
ändern sich die Zeiten.
KOLOKOL? Die
Glocke, heißt es auf gut Deutsch. So lautete der Titel einer Zeitung,
die ein berühmter russischer Dissident des XIX. Jahrhunderts, Alexander
Herzen, in London herausgab und ins Zarenreich schmuggeln ließ.
„Kolokol“ wurde von dem ganzen
intellektuellen Russland gelesen. Die damaligen Menschenrechtskämpfer
freuten sich ungemein, schwarz auf weiß erfahren zu dürfen, was für
ein Schindluder die Zarenregierung mit Russland und den Russen treibt.
Eine zeitlang beeinflusste das offene und leidenschaftliche Wort
die russische öffentliche Meinung im Zarenreich mehr als alle
offiziellen und offiziösen
Medien der Regierung zusammengenommen. Herzen wurde zur Legende.
Lenin, der selbst eine Art „Kolokol“- „Iskra“, der Funke,
in Deutschland herausgab, zählte
ihn zu seinen Vorgängern. Die
Zeiten ändern sich. Jetzt hat man andere Mittel, um unerwünschte
Aussagen die Grenzen passieren zu lassen. Der Hörfunk (sieh die
Archivsparte „Inoweschtschanije“ von matrjoschka- online), noch
wirksamer das Fernesehen. So
will ein gewisser Boris Beresowski ein Fernseh- „Kolokol“ ins Leben
rufen. Zwischen
Beresowski und Herzen fällt es allerdings schwer, ein Gleichniszeichen
zu setzen. Herzen war adlig und arm. Boris Beresowski stammt aus keinem
russischen Adelsgeschlecht. Und arm ist er
nicht. Im Gegenteil – einer von jenen frischgebackenen Milliardären,
die in Russland der Wendezeit sehr produktiv das allgemeine Wirrwarr
nutzten. Es lassen sich auch Parallelen ziehen. Wie Herzen anno dazumal hasst Beresowski
die russische Regierung. Auch wenn die Motive verschieden sind. Herzen
hasste die Zarenregierung dafür, was sie dem Volke angetan hatte.
Beresowski hasst Putins
Regierung dafür, was sie ihm persönlich angetan hatte. Er wollte nämlich
nicht nur reich, sondern auch politisch einflussreich in Russland sein.
Putin widersetzte sich dem Verlangen. So verkrachten sich beide.
Beresowski erklärte Putin den heiligen Krieg. Sein
Fernseh“Kolokol“ soll zur scharfen Waffe in dem Krieg werden. Er
will den russischsprachigen Fernsehsender in den USA installieren. Die
Programme sollen via Satellit weltweit empfangen werden können. Und
unbarmherzig mit Putin abrechnen. Unter Beihilfe von erfahrenen
Fernsehmenschen, die bereits an dem Fernsehsender NTV,
jetzt stillgelegt, mitgearbeitet hatten. Mal
sehen, was daraus wird. Mal sehen, ob das Debüt von Beresowski, als
Alexander Herzen verkleidet, gelingt. Matrjoschka- online,
leidenschaftliche Vorkämpferin für die Pressefreiheit, wird die Sache
verfolgen. Schließlich meinen die
Holzpuppen, jedes freie Wort sei willkommen. Moment
mal! Halten wir inne. Jedes? Oder doch nicht jedes? 4.03.02
WIE DIE ZEITEN SICH ÄNDERN... Vor etwa siebzig Jahren wurde in der Sowjetunion ein Streifen über ein Kind gedreht, das, wegen dunkler Hautfarbe im Westen schlecht behandelt, seine wahre, liebende Heimat im Land der Gleichberechtigung von Menschen jeglicher Herkunft gefunden hätte. Damals ging in Deutschland die Hetze gegen den Juden los. Und Jazz war als „Niggermusik“ verpönt. Verständlicherweise war der Film als eine Art Stinkfinger gedacht, der auf Deutschland zeigte. Ein guter, ein rührender, ein antifaschistischer Film. Die Zuschauer verließen die Kinos mit Tränen. Und mit geballter Faust in der Hosentasche. Der Kampf gegen Rassismus wurde sehr konsequent geführt, wie jeder Kampf in der Sowjetunion gegen Verbrechen des Kapitalismus sehr konsequent geführt wurde. So konsequent, dass die Nackedeis aus Plaste, mit denen kleine Kinder in die Badewanne gingen, nur weiß sein durften. Kleine Negerlein aus Plaste, die damals Zelluloid hieß, waren verpönt, da ein Kind aus Versehen der Puppe ein Glied abreißen und damit ungewollt zum Rassisten in spe werden konnte, der die Schwarzen quält. Den Sowjetmenschen war das eingeschärft worden, was ein liebes Berliner Mädchen dem Verfasser unlängst öffnete. Dass die Rassisten Arschlöcher sind. Alle! Leider aber wurde diese Offenbarung nicht tief genug verinnerlicht. Sonst wäre nicht aus Moskau die Mitteilung gekommen, die dem Verfasser weh tat. Darüber, dass zur Zeit in Russland über 250 rassistische Gruppierungen tätig sind, besonders stark gerade in Moskau (mit mindestens 10.000 gewaltbereiten Mitgliedern). Die Zahl der Opfer geht in die Tausende. Darunter viele dunkelhäutige aus dem Ausland. Seit Mai 1990 mussten 104 davon ein Krankenhaus aufsuchen. Vier Afrikaner wurden totgeschlagen. Da auch Diplomaten nicht geschont werden, wenn ihre Hautfarbe nicht stimmt, musste der Doyen des diplomatischen Korps in der russischen Hauptstadt, dunkelhäutiger Botschafter eines afrikanischen Landes, bei der russischen Regierung offiziellen Protest wegen der Behandlung seiner Leidensgenossen auf der Strasse einlegen. Das Moskauer AA riet dem Diplomaten, sich ans Innenministerium zu wenden. Dieses berief sich seinerseits darauf, dass ihm die nötigen Kräfte fehlen, um die Schläger von der Strasse fernzuhalten. Erst wenn eine effiziente Koordinierung seiner Bemühungen mit denen der Geheimdienste erreicht ist, könnte man damit rechnen, dass die Offensive der Rassisten zurückgeschlagen wird. Im Übrigen seien nicht nur „richtige“ Ausländer betroffen. Auch Kaukasier und Mittelasiaten (d.h. Angehörige der einstigen „Brudervölker“ der Russen), leben in Moskau gefährlich. Sehr gefährlich. Aber sie können sich wehren, was die Diplomaten weniger können. Vielleicht wäre es angebracht, auf den Strassen der Hauptstadt die Präsenz der regulären Armee zu zeigen. Aber die Armee ist in Tschetschenien sehr beschäftigt. (Nach Presscenter.ru) 9.2.02 WAS
FEHLT DEM KREML? K.
Rogow, eine bemerkenswerte Figur im Runet (Polit.ru), meint, dem Kreml
fehle eine starke liberale Partei. Nur sie könne der schwelenden
Auseinandersetzung zwischen den zwei Flügeln des Putinregimes
ein Ende setzen. Zum einen zählt er „die Familie“. Das sind
Oligarchen, die unter Gorbatschow und insbesondere unter Jelzin fette Stücke
des sowjetischen Eigentums an sich reißen konnten. Sie sind nicht nur
deswegen mächtig, weil sie reich sind. Inzwischen haben sie
Schlüsselpositionen des Staates in der Hand. Z.B. die
Eisenbahnen, die zwar formell staatlich, aber in der Realität zu einer
privaten „kormuschka“- Futternapf- geworden sind. Oder das
Zollwesen, dessen Personal auf die „Nebeneinkünfte“ angewiesen ist.
(Sonst müsste es verhungern.) Um das Sagen in diesen formell staatlichen, aber nach der ganzen Funktionsweise eher privaten Monopolen wird heftig gerungen. Auch mit Mitteln, die anderswo unüblich sind. Der andere Flügel im Kreml besteht aus den „Petersburgern“. Unter diesem Sammelbegriff werden vor allem Geheimdienstleute apostrophiert, die der russische Präsident noch in seiner Zeit an der Newa gut kennt. Sie wollen ihren Platz an der Sonne behaupten und erweitern. Und pochen darauf, dass der Reichtum der Günstlinge der „Familie“ nicht ganz koscheren Ursprungs sei. Denn die Beute der „Systemtransformation“ wurde nach den Regeln einer Diebesbande verteilt. Hier macht Polit.ru das Grundübel des heutigen Russlands aus. Die fehlende Legitimierung des Reichtums. Und somit auch des Staates, der diesen Reichtum beschützen muss, da er es mit den Oligarchen nicht aufnehmen kann. Allerdings kann der Präsident auch die „Petersburger“ nicht vor den Kopf stossen, die zwar viel weniger reich sind, aber viel reicher werden wollen. Denn auch auf ihre Unterstützung ist der Kreml angewiesen. Sie sind die Spitze des russischen Beamtentums, das mit jedem fertig wird, der sich an seinen Pfründen vergreift. Putin versuchte dem Zwang der Umstände auszuweichen, in dem er sowohl die einen, als auch die anderen in seinen Stab holte. Vor allem diejenigen, die ihm zuverlässig schienen. Aber das existentiell bedingte Tauziehen fand damit kein Ende. Im Runet wird zunehmend prophezeit, letztendlich behalten die „Petersburger“ Oberhand. Auch weil sie einen neuen Klüngel der Supergeschäftsleute unter ihren Verbündeten haben. Das sind die sogenannten „russischen Orthodoxen“. Die Bezeichnung, die darauf hinweisen soll, dass ihre ethnische Abstammung eine andere ist als die der Günstlinge der Familie. Eine russische. Aber auch der Sieg der „Petersburger“ würde nur zur Umverteilung des Eigentums, nicht aber zu dessen Legitimierung führen, gibt Polit.ru zu. Das verheißt weitere Umverteilungskämpfe. Den Vorgeschmack gibt die „Familie“ bereits jetzt, nämlich mit Pressetamtam, das Angst vor den „Petersburgern“ schüren soll. Sie werden verdächtigt, Russland mit eiserner Hand regieren zu wollen. Fast wie Stalin. Deswegen empfiehlt Polit.ru auch die Schaffung einer dritten Kraft! Eines starken liberalen Establishments, das Gleichgewicht sichert. P.S. Glücklich sind die Länder, wo alles längst verteilt ist. 11.12.01 Russland auf dem Wege zur Diktatur? (von einem Studenten der Leipziger Uni, der nicht genannt werden will, an Hand von Aufzeichnungen einer Vorlesung verfasst, deren Urheber er nicht nennen will). In Russland ist nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems keine Demokratie entstanden, sondern ein autokratisches System, in welchem die Rechtssicherheit der Bürger nicht gewährleistet ist, auch wenn der Herrscher gewählt wird. Man nennt das eine "illiberal democracy". Die Lage in Russland widerlegt das optimistische Bild, das sich der Westen jahrelang von der Zukunft der früheren Großmacht zurechtlegte. Jetzt häufen sich die besorgten Fragen. Sie laufen auf eine hinaus: droht Russland die Rückkehr zur Diktatur? Oder anders ausgedrückt: Beschreitet Russland bereits den "Weg zum Faschismus"? Das "Abgleiten in den Faschismus" könne weder eine starke Hand noch eine Medienkampagne verhindern, wenn nicht in kürzester Zeit die "Lumpenisierung" der Bevölkerung und die Kriminalisierung der Politiker zum Stillstand gebracht würden, prophezeite Wjatscheslaw Kostikow, der frühere Kremlsprecher. Alexander Rahr schreibt im GUS-Barometer der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, der russische Präsident sei kein überzeugter Reformer, geschweige denn ein Demokrat. Ein faschistoides Russland wäre doppelt gefährlich, da es über Massenvernichtungswaffen verfügt. Hinter diesen realen Befürchtungen für Russland im 21. Jahrhundert steht die Prognose von zwei unterschiedlichen Entwicklungstendenzen: Die erste ist die "Tendenz zum Zerfall der staatlichen Zentralmacht" (A. Rahr). Der renommierte russische Publizist Boris Kagarlitzkij sieht nicht einmal eine Chance, das Staatswesen Russland zu erhalten. Die zweite Entwicklungslinie in Rußland führt - ähnlich wie in etwa der Hälfte der sich demokratisierenden Transformationsländer der dritten und vierten Welle - zur Herausbildung einer nichtliberalen Demokratie (illiberal democracy), wo die Bürgerrechte auf unsicherem Fundament stehen. Jedenfalls bleibt die Partizipation der Bevölkerung an der Politik auf den Urnengang beschränkt. Die lokale Selbstverwaltung ist unterentwickelt und unerwünscht. Inhalte und Ziele der Regierungstätigkeit liegen im Verborgenen. Die persönliche Bereicherung ist Motor und Maßstab des Machtkampfes. "Die neue russische Machtelite ist weder demokratisch noch kommunistisch, weder konservativ noch liberal - sie ist lediglich unersättlich habgierig". Dieser Charakterisierung der politischen Klasse durch den Führer der liberalen Opposition, Grigorij Jawlinskij, lassen sich zahlreiche Nuancen hinzuzufügen. Die "Korruptionsanfälligkeit" und "Unreife" (Claude Frioux) klingen dabei noch wie subjektive Fehler, die der Annäherung an einen Marktkapitalismus nicht unbedingt im Wege stehen müssen. Doch zu dieser Annäherung kann es nicht kommen, weil die Räuber-Barone, statt ökonomische und soziale Probleme zu lösen, einen "kriminellen Staat" errichtet haben. George Soros und Alexander Solschenizyn unterscheiden sich kaum in der Aussage, dass die Privatisierung nichts anderes war als der massenhafte Raub des nationalen Eigentums. Den Räuber-Baronen ist es sodann gelungen, demokratische Wahlen zu instrumentalisieren, schreibt Jawlinskij. Die Wahlen sind nur eine teure Fassade. Der Unterschied zum kommunistischen System ist insofern nur als graduell und nicht als qualitativ zu betrachten, da die Wahlen nicht zum Machtwechsel dienen, sondern zur Manipulation der schweigenden Mehrheit. Der Westen hat erheblichen Anteil an diesem Zustand. In Jelzins Amtszeit gehörte es im Westen zum guten Ton, von der Obstruktionspolitik der Duma zu sprechen, also den Wählerauftrag zu ignorieren. Die nationalistisch-kommunistische Mehrheit in der Duma wurde im Westen routinemäßig mit abschätzigen Bemerkungen bedacht, als ob sie die Macht heimtückisch erschlichen und nicht durch Wahlen errungen, die von der EU und der OSZE als fair und frei anerkannt wurden. Wie zu Sowjetzeiten, als der Westen Geschäfts- und Gesprächspartner in der oberen Nomenklatura der SU suchte und fand, waren auch in der postsowjetischen Ära die wichtigsten Kontakte der maßgeblichen westlichen Politiker auf die Oligarchie konzentriert. Die mächtige Riege der Kleptokraten versuchte erfolgreich, vom Westen mehr und mehr Geld zu bekommen, und die Gläubiger wollten mit "zuverlässigen" Managern der russischen Makroökonomie zu tun haben, sich aber nicht mit sozialen Verpflichtungen demokratischer Politik herumschlagen. Die internationalen Finanzorganisationen konnten bei ihrer Kreditpolitik zwar die Kräfteverhältnisse in Russland nicht gänzlich ignorieren, doch erwarteten sie, dass die Regierung ihrem Diktat Folge leistet. Die monetaristische Reformstrategie des Westens lässt sich nur in einer nichtliberalen Demokratie durchsetzen. Die Exekutive müsse wie eine Faust funktionieren, forderte einst Anatoli Tschubais, Boris Jelzins Privatisierungsminister und Vizepremier, der häufig Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds führte. Nach Meinung von Gennadij Selesnjow, dem Vorsitzenden der Staatsduma, kann Russland die Auflagen der internationalen Finanzinstitutionen nur um den Preis einer strammen Diktatur erfüllen. Das mag übertrieben klingen, aber das gute Verhältnis der USA zu diktatorischen Regimes in Lateinamerika während des Kalten Krieges sollte nicht in Vergessenheit geraten. In Russland reduziert die Verfassung die Möglichkeiten, die Regierung zu kontrollieren. Die Verabschiedung des Staatshaushalts gehört zu den beschränkten Kompetenzen der Duma. Der Haushaltsentwurf der Regierung kommt jedoch aus dem Finanzministerium, wo die Eckdaten mit dem IWF abgestimmt werden. Der Duma bleibt regelmäßig nur die Rolle, ihre Zustimmung zu einer Austerity-Politik zu geben und den Mangel zu verteilen. Die monetaristische Reformkonzeption wie auch die damit verbundene "Geheimdiplomatie" des IWF trug zur Herausbildung einer Diktatur in Russland bei. Der Öffentlichkeit wurden die wichtigsten Details der Vereinbarungen nicht bekannt. Gerüchte über Washingtons Einflussnahme auf die Besetzung wichtiger Regierungsposten machten die Runde. Den größten Schaden fügte jedoch die vom Westen gerühmten Stabilitätserfolge der wechselnden Regierungen zu. Um das Budgetdefizit und die Inflation auf das vom IWF gewünschte Niveau zu drücken, hat die Regierung Staatsaufträge und Staatsbedienstete oft nicht bezahlt. Die monatelange Verzögerung bei der Auszahlung von Löhnen und Renten bestätigte nur die landläufigen Vorurteile gegen den Westen. "Das letzte normale Jahr war 1990", bekundete eine Sprecherin der protestierenden Pädagogen. Eine verhängnisvolle Rolle spielte Boris Jelzin. Bei der Politik der Preisfreigabe und der Privatisierung folgte er westlichem Rat und öffnete sein Land für westliche Konsumgüter und Kapitalanlagen. Sein Ansehen im Westen und seine Popularität im Lande klafften nach kürzester Zeit auseinander. Dieses Schicksal teilte er mit seinem früheren Erzrivalen Michail Gorbatschow. Doch während dieser als Staatschef der Sowjetunion nach der von Jelzin betriebenen Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten im Dezember 1991 zurücktrat, wollte Boris Jelzin im Juni 1996 wiedergewählt werden. Zu Beginn des Wahlkampfes hatte Jelzin jedoch nur eine Wählerunterstützung zwischen drei und sechs Prozent. Der Vorsprung des kommunistischen Präsidentschaftskandidaten Gennadij Sjuganow sorgte im Jelzin-Lager und im Westen für Unruhe. Nach der Rückkehr ehemaliger Kommunisten an die Macht in Polen, Ungarn und Litauen erschien der Sieg des Kapitalismus noch nicht so endgültig wie vielfach angenommen. Und im Gegensatz zu Osteuropa hätte nicht eine reformkommunistisch oder sozialdemokratisch orientierte Linke den Wahlsieg errungen, sondern eine Partei, die auf Kontinuität mit dem alten Regime setzte und sich vom Westen abgrenzte. Diese Aussicht mobilisierte die Freunde Jelzins im Westen. Anatolij Tschubais machte beim Internationalen Währungsfonds 10,2 Milliarden Dollar locker. Helmut Kohl kam seinem Sauna-Freund, dem Hauptimporteur deutscher Agrarprodukte, mit vier Milliarden Mark zu Hilfe. Auch Frankreich und andere Länder griffen in ihre Kassen. Jelzins Wahlkampf hat ein Mehrfaches der gesetzlich zulässigen 2,9 Millionen Dollar gekostet. Das auffälligste Merkmal dieser Interventionen während der Präsidentenwahlen 1996 war, dass sie nicht der russischen Demokratie, sondern Boris Jelzin galten. Trotz angegriffener Gesundheit und seiner notorischen Neigung, Recht und Gesetz zu missachten, wenn es der Machterhaltung nützt, wurde er zum Garanten sowohl der politischen Stabilität als auch der kapitalistischen Transformation hochstilisiert und alimentiert. Das Bundeskanzleramt unter Helmut Kohl verfolgte die Politik, "Zeit zu kaufen" – Zeit für Geschäftsabschlüsse und für politischen Einfluss. Dieses Ziel ist trotz der Zäsur der russischen Finanzkrise vom 17. August 1998 in beträchtlichem Maße erreicht worden. Jetzt liegen die Folgen der westlichen "Stabilisierungsstrategie" auf der Hand. Es sind eben die direkten und indirekten Langzeitfolgen der von vested interests geleiteten Intervention in Russland, die jetzt zu seiner Faschisierung zu führen drohen. Die Gefahr liegt auch in der russischen Verfassung. Sie folgt nicht dem Modell des deutschen Grundgesetzes, obwohl Bonn viel in die Beratung und Fortbildung der Fachleute investiert hat. Die Grundrechte stehen nicht im ersten, sondern im zweiten Hauptteil, nach den Grundprinzipien des staatlichen Aufbaus - ähnlich wie in der Weimarer Verfassung. Und unter den "Rechten und Freiheiten der Menschen und Bürger" erscheint Artikel 29, die Meinungsfreiheit, erst an 13. Stelle. Die Verfassungswirklichkeit hebelt selbst diese normativen Rechte weitgehend aus. Die Meinungsäußerung und die Meinungsverbreitung werden manipuliert. Dem investigativen oder kritischen Journalismus werden Grenzen durch mehrfache Auftragsmorde pro Jahr aufgezeigt. Die Rechtsstaatlichkeit liegt in Russland im argen. Gerichtsentscheidungen herbeizuführen und durchzusetzen, ist einem Durchschnittsbürger ein Ding der Unmöglichkeit. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist nicht garantiert. Unter dem Spardiktat des IWF kann der Staat nicht, auch wenn er das will, für seine Rechtsprechung aufkommen. Die Gerichte verlieren an Ansehen, die Eintreibung von Kreditforderungen hat die Mafia übernommen. Das sind Marksteine auf Russlands Weg in eine ungewisse Zukunft. Ist Russland bereits Weimar? Jedenfalls muss der Westen, um zu vermeiden, dass es in Russland zu einer vergleichbaren Entwicklung kommt, Lehren aus Weimar ziehen. Gesetzt den Fall, er will das Post-Weimar in Russland verhindern. Nachdem Russland den Kalten Krieg verloren hat, darf das Friedensdiktat der Westmächte nicht weiterhin die Gefahr wirtschaftlicher Ausblutung des Landes (durch Schuldendienst oder internationale Finanzspekulation) fördern. Das ist das Minimum, das zu erwarten wäre.
STEUERT DIE MENSCHHEIT DER SELBSTVERNICHTUNG ZU? AUF
DEM HOLZWEG? Die
Frage bezieht sich auf Runet- Analytiker, die bemüht sind, die
Kriegshandlungen im Irak vor dem Hintergrund der russischen Erfahrungen
bei der Abwehr der deutschen Invasion 1941 – 1945 zu prognostizieren.
Damit vergleichen sie
unterschwellig George W. Bush mit Adolf Hitler. Auch wenn es dazu manche
Anknüpfungspunkte gibt, gehen
die Russen da entschieden zu weit und müssten zurückgepfiffen
werden, meint der weltbekannte Historiker, Iwan Matrjoschkin, Esq. Die
vergleichsfreudigen Russen konzentrieren sich aber auf militärische
Aspekte. So erinnern sie daran, dass das Scheitern der deutschen Wehrmacht
in Russland damit begann,
dass der Vormarsch der Wehrmacht in den ersten Kriegsmonaten trotz des
hohen Tempos (im Schnitt 100 km. pro Tag) doch langsamer war als geplant.
Deshalb trat später „General Frost“ in Aktion, der wesentlich zu den
Niederlagen der Wehrmacht bei
Moskau und Stalingrad beigetragen hat. Zwar
ist im Irak kein Frost zu
erwarten, aber eine für weiße Männer genauso oder noch unerträglichere
Hitze kann unter Umständen
dieselbe Wirkung haben. Deswegen wollte das Pentagon einen Blitzkrieg wie
er 1940- 1941 auch von Berlin
gewollt war. Aber der Blitzkrieg blieb auf den Generalstabskarten.
Damals wie Heute. Der
andere Anknüpfungspunkt der Vergleiche: Wie die deutschen
Generalstrabsstrategen 1940-1941 hätten auch
ihre amerikanischen Kollegen auf ein falsches Pferd gesetzt. Nämlich
auf die Opposition im
Feindesland. Zwar gab es auch in Russland eine Opposition wie es sie jetzt
im Irak gibt. Dennoch trug die Gefährdung
der nationalen Souveränität
und die barbarische Kriegführung der Gegner
nicht, wie erhofft, zu ihrer Konsolidierung, sondern zu ihrer Eindämmung
bei. In den Augen der Russen wurde sie zusehends zu einer Verräterklicke.
Ähnliches vollziehe sich auch im Irak. Die erwarteten Massenaufstände
gegen Hussein lassen auf sich warten. Das wirft die ganze Strategie des
Angreifers über den Haufen.
Wie 1941- 1945 in Russland. Auch
versuchen die russischen Analytiker,
zwischen dem damaligen und jetzigen Wandel der öffentlichen
Meinung in der Welt eine
Parallele zu ziehen. Wie damals Russland, so
gewinne jetzt der Irak
mit jedem Tag mehr Ansehen in der Welt. Die Vorbehalte gegen Saddam
verlieren an Bedeutung wie
damals die Vorbehalte gegen Stalin.
Das erzeuge eine ungünstige Atmosphäre für die
Aggressoren. Damals und Heute. Was aber unser Spezialist, Iwan Matrjoschkin, Esq., in manchen russischen Reminiszenzen haarsträubend findet, ist die unterschwellige Gleichstellung der Kämpfe in Stalingrad 1942-1943 mit den bevorstehenden in Bagdad. Zwar ist auch in der irakischen Hauptstadt ein erbitterter Häuserkampf mit hohen Verlusten zu erwarten, trotzdem hinke der Vergleich. Denn damals kämpften ungefähr gleiche Gegner. Die Deutschen und die Russen verfügten über ähnliche Rüstung und die zahlenmäßige Truppenstärke war auch vergleichbar. Da das Kräftegefälle fehlte, war es kein Zweikampf zwischen Goliath und David. Jetzt ist es ganz anders. Wie der Krieg auch ausgehen mag, bekleckern sich die GI-s deswegen nicht mit Ruhm, sondern mit Schande. Tut mir leid, sagt Matrjoschkin, der sich um eine Anstellung im Weißen Haus bewarb. 29.3.03 Der Verfasser des folgenden Beitrags heißt Boris Rauschenbach. Er ist Russe deutscher Abstammung und die Nummer Eins in der russischen Physik der Gegenwart. Er beschäftigt sich aber nicht nur mit Physik, sondern auch – wie Einstein und Sacharow – mit der Gegenwart und Zukunft des Menschengeschlechts und schreibt Bücher darüber.
Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, dass die Menschheit noch hundert Jahre existiert, heißt es in dem neuesten Beitrag von ihm. Konsequent steuert sie auf den Moment zu, da die mögliche Selbstvernichtung real und aufgrund eines Fehlers sogar wahrscheinlich wird. Der einzige Hoffnungsschimmer besteht darin, dass die Wege der Wissenschaft schwer voraussagbar sind. Darauf stieß ich beim Lesen von Büchern, in denen die wissenschaftliche Entwicklung Ende des 19. Jahrhunderts prognostiziert wurde, natürlich auch mit Hinblick auf das gerade zu Ende gegangene 20. Jahrhundert. Nie habe ich größeren Unsinn gelesen, obgleich die Verfasser zu den seriösen und angesehenen Wissenschaftlern zählten. Doch was konnten sie schon prophezeien, wenn ihnen nicht einmal im Traum eingefallen wäre, dass es das Radio, die Elektronik, Rechenmaschinen, Computer und das Internet geben wird? Was beherrschte die Geister im19.Jahrhundert? Die Dampflok. In dem Film "Ankunft des Zuges" von den Brüdern Lumer fuhr die Lokomotive direkt auf die Zuschauer zu, viele sprangen erschrocken auf, liefen davon, die Damen fielen in Ohnmacht. Daraus schlussfolgerten die Gelehrten, dass im 20. Jahrhundert sehr große Lokomotiven auf sehr großen Gleisen fahren werden. Der Flugzeugbau steckte damals noch in den Anfängen. Ich erinnere mich an eine Karikatur aus dem 19.Jahrhundert. Luftschiffe gleiten über Strassen. Der menschliche Geist vermag die nächsten zwei Stunden, vielleicht den nächsten Tag voraussehen. Brauchte der Urmensch die Fähigkeit, das Geschehen der kommenden zehn Jahre vorherzusehen? Nein. Er glaubte, alles bleibt wie es ist. Was sich in den nächsten zwei Stunden abspielt, das wusste er: Ich gehe in den Wald, schieße ein Tier, schleppe Holz herbei und ernähre meine Sippe. Sein Leben blieb immer gleich. Jetzt verhält es sich umgekehrt. Das Leben ändert sich rasant, nach äußerst komplizierten Gesetzen. Vorhersagen können wir aber nur linear und nur das, was die direkte Fortsetzung der augenblicklichen Vorgänge darstellt, nicht aber die Entwicklung links rechts, oben unten, dorthin hierhin. Deshalb können wir nichts prognostizieren, nicht einmal die Wissenschaftsprofis. In zehn, zwanzig Jahren tritt etwas ein, wovon der Profi keine Ahnung hat. Er kann es sich nicht einmal ausdenken, so unvorhergesehen wird es sein. Das Unvorhersehbare vorhersehen, das ist zu hoch für den menschlichen Intellekt. Ich würde es so formulieren: Das Unvorhersehbare, das in zwanzig Jahren eintritt, kann ich mir nicht vorstellen, das ist für alle unvorstellbar, besonders in der Wissenschaft. Ja, die Entwicklung wird fortgesetzt, alles geht seinen Gang, die Menschen werden ihren Alltag und ihre Arbeit noch intensiver technisieren. Die Entwicklung der Wissenschaft lässt sich bekanntlich nicht aufhalten. Wir werden also immer größere Leistungen sehen. Welche konkret, das weiß allerdings niemand. Das Schlimme ist, dass die Wissenschaft Menschen mit Steinzeitintellekt riesige zerstörerische Kräfte in die Hand gibt. Niemand will bewusst die totale Apokalypse. Dennoch wurde die Atombombe gebaut und gezündet. Ihre Erfinder hatten natürlich nur das Ziel, eine wissenschaftliche Aufgabe zu lösen, über die moralisch-ethischen Folgen machten sie sich keine Gedanken, wahrscheinlich dachten sie, irgendwo geht sie hoch, die Welt reagiert entsetzt, die Feinde kapitulieren. Wozu eine Bombe bauen und sie nicht zünden? War der Zerfall einer so starken Macht wie die Sowjetunion vorauszusehen? Ist der Untergang der Menschheit voraussagbar? Nein. Aber auch ihre Rettung ist nicht voraussagbar. Das ist des Pudels Kern. Nach Vesti.ru 20.02.01
VERBRECHEN DER WEHRMACHT In Berlin wurde eine Ausstellung eröffnet, die in einem Teil der deutschen Öffentlichkeit für Aufregung sorgt. Die Ausstellung räumt mit jenem Mythos auf, wonach die im Zweiten Weltkrieg deutscherseits verübten Greueltaten gegen die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten ausschließlich auf das Konto der SS und ähnlicher Sondertruppen kämen. Die Wehrmacht aber habe nur ihre Pflicht getan. Ihr sei nichts vorzuwerfen. Das ist der Mythos, der seinerzeit die Ehre des deutschen Militärs retten und damit auch die Wiederbewaffnung Westdeutschlands erleichtern sollte. Er wurde und wird aber auch weit über den eigentlichen Anlass hinaus gepflegt. Das zeigten die heftigen Proteste gegen die erste Variante der Ausstellung, die vor zwei Jahren wegen einiger Schnitzer vorzeitig geschlossen wurde. Aber auch die heutige Version, wo jedes Foto und jedes Dokument von Experten mehrfach überprüft worden ist, stößt nicht nur auf Zustimmung. Sogar der feierliche Auftakt im Berliner Ensemble benötigte deswegen einen starken Polizeischutz. Auf der Ausstellung selbst fallen Sicherheitsmassnahmen auf. Bezeichnenderweise sind nicht nur marginale Gruppen wegen der Ausstellung gereizt. Auch im anderen Lager, das sich in der Mitte des politischen Spektrums wissen möchte, lassen sich Zweifel wahrnehmen. Es wird unterschwellig bezweifelt, ob es ausgerechnet jetzt, da die Bundeswehr weit von den Grenzen der Bundesrepublik und sogar von den Grenzen des vereinten Europas wichtige Aufgaben übernimmt, einen Sinn hat, an die Verbrechen der Wehrmacht zu erinnern? Nach einigem Überlegen muss aber die Antwort „Ja!“ lauten. Und zwar aus folgendem Grund. Auch
wenn die Wehrmacht und die Bundeswehr genauso wenig miteinander zu tun
haben wie das terroristische Hitlerreich und die gegenwärtige freie
und demokratische deutsche Republik, droht jeder Kriegseinsatz, unter
welchem Banner und von welcher Streitmacht
er auch eingeleitet wird,
immer außer Rand und Band zu geraten. Davon zeugt die
Geschichte. Sie kennt keinen netten Krieg,
der die zivile Bevölkerung schont. Ein Krieg war immer
barbarisch. Das rechtfertigt zwar
die furchtbaren Verbrechen
im Zweiten Weltkrieg keineswegs.
Aber hilft das Unbegreifbare zu begreifen. An
die Unbändigkeit des Krieges erinnert übrigens auch eine
dokumentarische Sendereihe, die das
Zweite Deutsche Fernsehen fast zeitgleich mit der Ausstellungseröffnung
in Berlin startet. Sie handelt von
Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten des
Hitlerreiches am Ende des Zweiten Weltkrieges. Auch diese Menschen
mussten Schlimmes über sich ergehen lassen. Dass
an den Übergriffen sowjetische Soldaten schuldig waren, treibt einem
Russen von Heute tiefes Schamrot ins Gesicht.
Auch einem, der den westlichen Teil seiner Heimat
mit Ruinen und Galgen dicht besät erlebte. Auch einem, der sich vergegenwärtigt, dass in diesem Falle
die Verbrechen nicht befohlen wurden, keinen rassistischen Hintergrund
hatten und die Zahl der
Leidtragenden bei weitem nicht die der Opfer der nazistischen
Wehrmacht erreicht. Was
sollen aber gegenseitige
Beschuldigungen und Aufrechnungen? Ihre Zeit ist
längst abgelaufen. Jetzt ist die Zeit, zu verinnerlichen, dass
jede Gewaltanwendung,
wenn sich diese schon nicht immer ganz vermeiden lässt, mit allen
Mitteln auf ein Mindestmaß reduziert werden muss. Weil sonst der Lauf in die
Hölle wieder startet. Wenn die Besucher der in Berlin eröffneten Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg mit diesem Gedanken nach Hause gehen, ist damit allen gedient. Vor allem den Deutschen und den Russen, den Angehörigen jener zwei europäischen Völker, die am meisten unter den Greueltaten des Zweiten Weltkrieges litten. Und auch allen anderen Menschen in jeder Ecke des Globus, die sich wieder vom Ungeheuer des Terrors und des Militarismus bedroht fühlen.
Wassili Schandybin, Abgeordneter der russischen Staatsduma, schlug vor, Israel an Russland anzuschliessen. Er bekannte, den Juden viel Achtung entgegenzubringen und von ihnen lernen zu wollen. "Ich hätte bereits mehrmals gesagt, Israel soll an Russland angeschlossen werden. Damit die ehrlichen Juden in Russland mehr Ordnung schaffen. Ich weiss nicht, warum man die Juden nicht gerne hat. Sie sind allen anderen Menschen sehr ähnlich, nur ganz anders als die anderen", hob Schandybin in einem Interview hervor. 5.5.01. Utro.ru
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